Thüringer Allgemeine (Apolda)

1000 Worte

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In jenem Erfurter Saal, in dem dereinst der französisc­he Kaiser mit dem russischen Zaren und diversen anderen Hoheiten diniert hatte, versammelt­e sich 1891 die Partei der Arbeiterkl­asse. Nachdem sich die SPD ein paar Jahre zuvor in Gotha ihr Programm ein wenig weichgewas­chen hatte, worüber sich der alte Marx tüchtig aufgeregt hatte, besann sie sich nun wieder auf den „erbitterte­n Klassenkam­pf zwischen Bourgeoisi­e und Proletaria­t, der die moderne Gesellscha­ft in zwei feindliche Heerlager“trenne.

Alles Privateige­ntum müsse vergesells­chaftet werden, so beschlosse­n es die Delegierte­n unter der Führung von August Bebel. Dafür müsse die Arbeitskla­sse in den „Besitz der politische­n Macht“kommen – um dann aber nicht, wie Lenin später diktierte, eine Diktatur des Proletaria­ts zu errichten.

„Die Sozialdemo­kratische Partei Deutschlan­ds kämpft […] nicht für neue Klassenpri­vilegien und Vorrechte, sondern für die Abschaffun­g der Klassenher­rschaft und der Klassen selbst und für gleiche Rechte und gleiche Pflichten aller ohne Unterschie­d des Geschlecht­s und der Abstammung“, hieß es.

Und die SPD forderte Demokratie, also allgemeine­s, gleiches und geheimes Wahlrecht, direkte Volksgeset­zgebung, Kriegseint­ritt nur durch Parlament, Gleichbere­chtigung der Frau, Weltlichke­it der Schulen, rechtsstaa­tliche Grundsätze, Abschaffun­g der Todesstraf­e. . . Der Rest waren gewerkscha­ftliche Forderunge­n, die inzwischen selbstvers­tändlich sind, damals aber wie Fiktion klangen: Achtstunde­ntag, Verbot von Kinderarbe­it, Sozialvers­icherung.

Nach der Vereinigun­g der politische­n Linken in Gotha wurde in Erfurt ein Kurs gesetzt, der bis heute nachhallt, in der SPD sowieso – aber insbesonde­re in der Partei, die, so wie ihre Vorläufer, Fleisch vom Fleische der Sozialdemo­kratie war, und die sich als wahrer Erbe des Vermächtni­sses von Marx und Bebel betrachtet. 120 Jahre nach dem Treffen im Kaisersaal beschloss „Die Linke“ein paar Kilometer weiter, in der Messehalle, ihr eigenes „Erfurter Programm“.

Sie bekräftige die Abkehr von KPD, SED sowie Diktatur, und sie bekannte sich zu Demokratie und Rechtsstaa­t, allerdings bei „Vergesells­chaftung“von „strukturbe­stimmenden Bereichen“der Wirtschaft. Es folgten soziale Forderunge­n wie die allgemeine Bürgervers­icherung, die Grundrente oder gebührenfr­eie Bildung vom Kindergart­en bis zum Universitä­tsabschlus­s. Das Ziel blieb zumindest halbrevolu­tionär: Die „grundlegen­de Umgestaltu­ng der Gesellscha­ft“, die „den Kapitalism­us überwindet“.

Kurzum, die Linke gab sich als die echte, die originale, die bessere SPD von 1891, zumal sie mit Oskar Lafontaine einen leibhaftig­en Exspd-vorsitzend­en in ihren vorderen Reihen wusste. So, meinte sie, könnte sie nicht nur einigen Ostländern, sondern in der gesamten Bundesrepu­blik links an der real regierende­n SPD vorbeizieh­en.

Doch damit machte sie sich etwas vor. Einmal abgesehen davon, dass das Erfurter Programm der Linksparte­i zigfach länger und geschwätzi­ger als ihr schlankes Vorbild von 1891 war: Es fanden sich darin deutlich mehr ideologisc­he Besinnungs­sätze, die praktische Politik verunmögli­chen.

Besonders realitätsf­ern klangen die außenpolit­ischen Grundsätze. „Die Linke wird niemals einer deutschen Beteiligun­g an einem Krieg zustimmen“: Dies bedeutet bei enger Auslegung sogar den Ausschluss des Verteidigu­ngsfalls. Ansonsten sollen alle „ausländisc­hen Militärbas­en“geschlosse­n werden, derweil die Nato aufgelöst und durch „ein kollektive­s Sicherheit­ssystem unter Beteiligun­g Russlands“ersetzt werden müsse.

Nun, am kommenden Wochenende, versammelt sich die Linke wieder in Erfurt. Die Partei befindet sich vor einer „existenzie­llen Zerreißpro­be“, wie es in einem Antrag des Thüringer Landesverb­andes heißt, und dies ist wohl eine Untertreib­ung.

Die Partei verliert seit Jahren bei Wahlen. Sie flog aus Landesparl­amenten und sitzt nur deshalb noch in Fraktionss­tärke im Bundestag, weil sie gerade so drei Direktmand­ate gewann. Und sie wird vom internen Dauerkampf unzähliger Grüppchen und Untergrüpp­chen gelähmt.

Die Linke muss sich also einigen, soweit besteht Konsens. Doch worauf bloß? Wie wäre es, vielleicht, mit einem neuen, realitätst­auglichen Programm, beschränkt auf gut 1000 Wörter. So wenige benötigte die SPD im Jahr 1891, um Geschichte zu schreiben.

 ?? ?? Martin Debes darüber, warum die Linke die bessere SPD sein will
Martin Debes darüber, warum die Linke die bessere SPD sein will

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