Wie brutal Putins Truppen den Widerstand in Cherson brechen
Aljonas Mann ist tot. Er wurde von Blutergüssen übersät aus dem Dnirpo gezogen. Was den Bewohnern der besetzten ukrainischen Stadt droht, wenn sie sich widersetzen
Krasnoje. Am Tag vor der Beerdigung ihres Vitaliy sitzt Aljona Laptchuk in einem Pavillon im Garten hinter einem grauen Häuschen in Krasnoje und schwankt zwischen Trauer und Wut. Sie zeigt auf dem Smartphone die wenigen Bilder von Vitaliy, die ihr geblieben sind. Auf den meisten lacht ein großer, starker Mann. Auf einem ist eine von Blutergüssen übersäte und im Wasser aufgequollene Leiche zu sehen.
Sie wolle, dass die Welt erfahre, was in Cherson passiert sei, sagt sie. Cherson, im Süden der Ukraine, war die erste Regionalhauptstadt, die die Russen Anfang März besetzt haben. Seither versuchen die Besatzer, die 300.000-Einwohner-stadt zu russifizieren. Sie haben den Rubel eingeführt, hissen russische Fahnen, verteilen russische Pässe. Den Widerstand vieler Bürger unterdrücken die Invasoren mit brutaler Gewalt. Menschen werden verschleppt. Menschen verschwinden. Das berichten Bewohner.
Mittlerweile sind in Cherson und in der Umgebung Partisanen aktiv. Erst am Sonntag ist laut ukrainischen Telegram-kanälen der von den Russen installierte Chef der lokalen Gefängnisverwaltung bei einem Anschlag verletzt worden. Die Angaben lassen sich nicht überprüfen. Bereits am 20. März war ein Assistent von Volodymyr Saldo, des prorussischen De-facto-gouverneurs der Region, bei einem Angriff getötet worden. Am 20. April wurde der prorussische Blogger Valerii Kuleshov in Cherson erschossen.
Aljona und Vitaliy Laptchuk lebten im Stadtteil Stepaniwka im Norden Chersons. Sie hatten eine kleine Tankstelle, die Aljona managte. Vitaliy war ihr zweiter Mann, er hatte bei den Luftlandetruppen in Mykolajiw gedient, dann wurde er Polizist, zuletzt war er bei einem Unternehmen in Kiew beschäftigt. „Er war ein Mann, der hart gearbeitet hat, die Liebe meines Lebens“, sagt die 54-Jährige. Ihre Geschichte kann nicht im Detail nachgeprüft werden. Aber sie deckt sich mit Berichten anderer Menschen aus Cherson, zu denen unsere Redaktion Kontakt hatte.
Als die russische Invasion am 24. Februar beginnt, rücken Angreifer im Oblast Cherson rasch vor. Die Region ist wichtig. In Nowa Kachowka, einige Kilometer östlich der Regionalhauptstadt, beginnt der Nord-krim-kanal, über den die Krim mit Wasser aus dem Dnipro versorgt wird. Die russischen Truppen stoßen beim Vormarsch auf wenig Gegenwehr. Vitaliy macht sich von Kiew aus auf zu seiner Familie.
„Er war wütend, dass die Antoniwka-brücke nicht gesprengt worden war“, erzählt Aljona. Über die Brücke führt die M17 direkt zur Krim. Vitaliy organisiert mit seinem Freund Deniz Mironow Gewehre, Molotowcocktails, Granaten. Er kommandiert bereits zwei Tage nach Kriegsbeginn eine Einheit von 59 Kämpfern der Territorialverteidigung. Der Widerstand bricht rasch zusammen, als eine andere Einheit von Freiwilligen in einem Hinterhalt zusammengeschossen wird. 40 Männer sterben. „Da haben dann viele ihre Waffen weggeworfen“, sagt Aljona. Am 1. März marschieren die Russen in Cherson ein.
Vitaliy und Deniz verteilen in den Tagen darauf Brot an die Bevölkeren rung. Sie sammeln Informationen über russische Truppenbewegungen, geben sie weiter an das ukrainische Militär. Und sie holen die weggeworfenen Waffen und verstecken sie, so erzählt es Aljona.
Als Einheiten der Rosgwardija in Cherson einrücken, der russischen Nationalgarde, „da wurde es wirklich gefährlich“, erinnert sich Aljona. Die dem russischen Präsidenten Putin treu ergebenen Truppen fühne
Säuberungsaktionen durch. „Viele Leute kamen in Gefangenschaft. Nachts konnte man ihre Schreie hören.“
Vitaliy erwischt es am 27. März. Er fährt mit Deniz zu einem anderen Freund, der sie gebeten hat, zu ihm zu kommen. Aljona ist überzeugt, dass dieser Freund ein Kollaborateur ist. Um 13 Uhr halten drei Fahrzeuge vor der Tür. „Mein Mann hat mich angerufen und mir gesagt, ich solle die Tür öffnen.“Als sie aufmacht, erkennt sie Vitaliy kaum wieder. Sein Kiefer ist zerschlagen, das Gesicht blau und grün. Seine Augen sind stumpf. Mit tonloser Stimme murmelt er: „Sie wollen nur die Waffen, Aljona.“Neun russische Soldaten durchsuchen das Haus. Aljona berichtet, wie sie die Männer anschreit. Einer mit einem Abzeichen der sogenannten Volksrepublik Donezk droht ihr, er werde ihr die Zähne ausschlagen, wenn sie nicht ruhig sei. Vitaliys Mutter wird hysterisch, hält eine Bibel schützend vor sich, als wolle sie den Teufel vertreiben, betet laut. Die Soldaten zerren Vitaliy in den Keller, wo die Waffen sind, schlagen ihn dort weiter zusammen. „Sein Blut war überall“, erzählt Aljona.
Die Männer stülpen Aljona, Vitaliy und ihrem ältesten Sohn Andrej Kapuzen über den Kopf, fesseln sie mit Kabelbindern. Aus dem Haus nehmen sie sämtliche Mobiltelefoder Familie mit, alles Bargeld, das sie finden, das Gold der Schwiegermutter und natürlich die Waffen. Sie verschleppen die Familie in die Polizeistation im Stadtzentrum, stecken sie in verschiedene Zellen, nehmen Fingerabdrücke und Dnaproben und machen Fotos. „Wir befreien euch von den Nazis“, sagt der Mann, der Aljona befragt. „Mein Vater ist Jude“, antwortet sie.
Nach mehreren Stunden lassen die Russen Aljona und Andrej frei. Vitaliy bringen sie in den Keller der Polizeistation. Sie wollen von ihm die Namen der anderen Mitglieder seiner Einheit erfahren. Aljona sieht ihren Mann nicht mehr lebendig wieder. Auch Deniz Mironow landet in diesem Keller.
Was den beiden dort widerfährt, kann Aljona nur aus Aussagen zweier weiterer Gefangener rekonstruieren, die ebenfalls gefoltert werden. Die Folterer sprechen sich nur mit Spitznamen an: Engel, Dämon, Ural, Dunai, Fortuna. Das Martyrium dauert zwei Wochen an. Deniz taucht am 18. April wieder auf. Seine Rippen sind gebrochen. Am 23. April stirbt er, weil eine der gebrochenen Rippen seine Lunge durchbohrt hat, berichtet Aljona.
Am 26. Mai wird die Leiche von Vitaliy aus dem Dnipro gezogen. Er ist gefesselt, sein Körper mit einer Hantel beschwert, sein Schädel zertrümmert. Aljona kann ihn nur anhand des Muttermals auf seinem linken Arm identifizieren. Aljona hat Cherson bereits am 7. April verlassen, einen Tag nach der Ehefrau von Deniz. An der Beerdigung ihres Mannes kann sie nicht teilnehmen.
Viele Leute kamen in Gefangenschaft. Nachts konnte man ihre Schreie hören. Aljona Laptchuk, ukrainische Witwe