So stark spitzt sich die Wohnungsnot zu
Die Zuwanderung ist hoch, der Bau stockt. Das Ziel der Ampelkoalition rückt in weite Ferne
Berlin. Als SPD, Grüne und FDP vor etwas mehr als einem halben Jahr ihre Ampelkoalition schmiedeten, staunten viele in der Immobilienbranche: 400.000 neue Wohnungen pro Jahr wollten die Koalitionäre bauen, 100.000 mehr pro Jahr als die Vorgängerregierung aus CDU/CSU und SPD – die aller Schönrechnerei zum Trotz selbst an diesem Ziel gescheitert war. Binnen weniger Jahre sollte sich die Situation auf dem Wohnungsmarkt, wo immer mehr Mieterinnen und Mieter mehr als die empfohlenen 30 Prozent ihres Nettoeinkommens für das Wohnen aufwenden müssen, entspannen. Doch daraus dürfte nichts werden. Im Gegenteil. Die Situation droht, sich weiter zu verschärfen.
Der Krieg in der Ukraine hat Lieferketten unterbrochen und die Materialpreise in Deutschland in die Höhe getrieben. Hinzu kommt Chaos bei der Förderung von klimafreundlichen Gebäuden. Erste Investoren legen ihre geplanten Bauprojekte auf Eis. In der Branche glaubt kaum noch jemand, dass Bundesbauministerin Klara Geywitz (SPD) am Ende der Legislaturperiode wirklich 1,6 Millionen neue Wohnungen gebaut haben wird. Im vergangenen Jahr fiel die Marke der fertiggestellten Wohnungen sogar wieder unter die 300.000er-marke.
Die Situation auf dem Wohnungsmarkt spitzt sich derweil weiter zu. Allein in diesem Jahr rechnet das auf Wohnungsmarktforschung spezialisierte Pestel-institut mit einer Zuwanderung von rund 700.000 Menschen. Darin enthalten sind rund 400.000 Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine. Auch wenn viele von ihnen nicht dauerhaft vorhaben, in Deutschland zu bleiben, kann derzeit kaum abgeschätzt werden, wie lange der Krieg in der Ukraine noch andauert.
Vor allem aber wird Deutschland nach Ansicht von Ökonomen auf Zuwanderung angewiesen sein. Die geburtenstarken Jahrgänge der sogenannten Babyboomer gehen nach und nach in Rente und hinterlassen eine Fachkräftelücke, die bereits heute spürbar wird.
In den vergangenen 20
Jahren verzeichnete Deutschland laut der Pestel-berechnung, die im Auftrag der IG Bau erstellt wurde und die unserer Redaktion vorliegt, eine Nettozuwanderung von knapp 280.000 Personen pro Jahr.
Mieten sind in den vergangenen Jahren kräftig gestiegen
Selbst wenn die Erwerbstätigkeit von Frauen um weitere vier Prozent steigen und die Erwerbsquote der über 65-Jährigen durch den späteren Renteneintritt um 20 Prozent zulegen würde, würde sich die Erwerbstätigkeit unter dem Strich um 3,9 Millionen Personen verringern, rechnet das Pestel-institut aus.
Im unwahrscheinlichen Fall, dass jedes Jahr 700.000 Erwerbstätige nach Deutschland einwandern würden, würde die Zahl der Erwerbstätigen dagegen lediglich um 400.000 Personen sinken. Nur: „Eine durchschnittliche Zuwanderung von 700.000 Personen je Jahr würde zu einer Einwohnerzahl von rund 90 Millionen im Jahr 2040 führen. Allein die Versorgung dieser zusätzlichen rund sieben Millionen Menschen mit Wohnraum scheint kaum darstellbar“, heißt es in der Studie.
Für realistischer halten die Hannoveraner Wohnraumforscher ein Szenario von rund 325.000 Menschen, die jedes Jahr nach Deutschland kommen. Dann allerdings würden im Vergleich zum Jahr 2020 in 18 Jahren immer noch 3,6 Millionen Erwerbstätige fehlen. Doch auch diese Zuwanderer müssen irgendwo wohnen. In ihrem Frühjahrsgutachten kamen die sogenannten Immobilienweisen bereits zu dem Schluss, dass die neu gebauten Wohnungen sich nicht am Bedarf orientieren werden: Gerade für Familien werde zu wenig Wohnraum geschaffen, hieß es in dem Gutachten.
Bei Robert Feiger, dem Bundesvorsitzenden der Baugewerkschaft IG Bau, schrillen angesichts dieser Aussichten die Alarmglocken. „Das sind Arbeitskräfte, die wir dringend brauchen – auf dem Bau und in vielen anderen Branchen. Aber die Menschen müssen auch wohnen“, sagte Feiger unserer Redaktion. Je mehr sich die Probleme auf dem Wohnungsmarkt verschärfen würden, desto kritischer sehe es auf dem Arbeitsmarkt aus. „Die Formel ist einfach: Ohne soziale und bezahlbare Wohnungen keine Zuwanderung“, so Feiger.
Wer es sich früher noch leisten konnte, eine Wohnung oder ein Haus zu kaufen, konkurriert heute oft zusätzlich auf dem Mietwohnungsmarkt. Die Immobilienpreise sind trotz der Corona-pandemie so stark gestiegen wie noch nie, für viele Haushalte ist der Traum von den eigenen vier Wänden geplatzt. Und auch die Mieten steigen. Laut einer Mietmarktanalyse des Pestelinstituts hat Deutschlands größter Privatvermieter Vonovia die Miete binnen fünf Jahren von im Schnitt 6,02 Euro auf 7,33 Euro im vergangenen Jahr um 21,8 Prozent erhöht. Die Nummer drei auf dem Markt, die Düsseldorfer LEG, kommt im selben Zeitraum demnach auf eine Erhöhung der Nettokaltmiete um 16,1 Prozent, allerdings auf niedrigerem Niveau.
Mieterbundpräsident Lukas Siebenkotten spricht bereits von einer „Schwelle zu einer neuen Wohnungsnot“. Und: „Am Wohnungsmarkt braut sich regelrecht ein Unwetter zusammen – die Miete für den Wohnraum und das Heizen als ‚zweite Miete‘ werden viele Haushalte nicht verkraften können. Spätestens im nächsten Jahr wird es gewaltig krachen“, sagte Siebenkotten unserer Redaktion.