Thüringer Allgemeine (Apolda)

So stark spitzt sich die Wohnungsno­t zu

Die Zuwanderun­g ist hoch, der Bau stockt. Das Ziel der Ampelkoali­tion rückt in weite Ferne

- Tobias Kisling

Berlin. Als SPD, Grüne und FDP vor etwas mehr als einem halben Jahr ihre Ampelkoali­tion schmiedete­n, staunten viele in der Immobilien­branche: 400.000 neue Wohnungen pro Jahr wollten die Koalitionä­re bauen, 100.000 mehr pro Jahr als die Vorgängerr­egierung aus CDU/CSU und SPD – die aller Schönrechn­erei zum Trotz selbst an diesem Ziel gescheiter­t war. Binnen weniger Jahre sollte sich die Situation auf dem Wohnungsma­rkt, wo immer mehr Mieterinne­n und Mieter mehr als die empfohlene­n 30 Prozent ihres Nettoeinko­mmens für das Wohnen aufwenden müssen, entspannen. Doch daraus dürfte nichts werden. Im Gegenteil. Die Situation droht, sich weiter zu verschärfe­n.

Der Krieg in der Ukraine hat Lieferkett­en unterbroch­en und die Materialpr­eise in Deutschlan­d in die Höhe getrieben. Hinzu kommt Chaos bei der Förderung von klimafreun­dlichen Gebäuden. Erste Investoren legen ihre geplanten Bauprojekt­e auf Eis. In der Branche glaubt kaum noch jemand, dass Bundesbaum­inisterin Klara Geywitz (SPD) am Ende der Legislatur­periode wirklich 1,6 Millionen neue Wohnungen gebaut haben wird. Im vergangene­n Jahr fiel die Marke der fertiggest­ellten Wohnungen sogar wieder unter die 300.000er-marke.

Die Situation auf dem Wohnungsma­rkt spitzt sich derweil weiter zu. Allein in diesem Jahr rechnet das auf Wohnungsma­rktforschu­ng spezialisi­erte Pestel-institut mit einer Zuwanderun­g von rund 700.000 Menschen. Darin enthalten sind rund 400.000 Kriegsflüc­htlinge aus der Ukraine. Auch wenn viele von ihnen nicht dauerhaft vorhaben, in Deutschlan­d zu bleiben, kann derzeit kaum abgeschätz­t werden, wie lange der Krieg in der Ukraine noch andauert.

Vor allem aber wird Deutschlan­d nach Ansicht von Ökonomen auf Zuwanderun­g angewiesen sein. Die geburtenst­arken Jahrgänge der sogenannte­n Babyboomer gehen nach und nach in Rente und hinterlass­en eine Fachkräfte­lücke, die bereits heute spürbar wird.

In den vergangene­n 20

Jahren verzeichne­te Deutschlan­d laut der Pestel-berechnung, die im Auftrag der IG Bau erstellt wurde und die unserer Redaktion vorliegt, eine Nettozuwan­derung von knapp 280.000 Personen pro Jahr.

Mieten sind in den vergangene­n Jahren kräftig gestiegen

Selbst wenn die Erwerbstät­igkeit von Frauen um weitere vier Prozent steigen und die Erwerbsquo­te der über 65-Jährigen durch den späteren Renteneint­ritt um 20 Prozent zulegen würde, würde sich die Erwerbstät­igkeit unter dem Strich um 3,9 Millionen Personen verringern, rechnet das Pestel-institut aus.

Im unwahrsche­inlichen Fall, dass jedes Jahr 700.000 Erwerbstät­ige nach Deutschlan­d einwandern würden, würde die Zahl der Erwerbstät­igen dagegen lediglich um 400.000 Personen sinken. Nur: „Eine durchschni­ttliche Zuwanderun­g von 700.000 Personen je Jahr würde zu einer Einwohnerz­ahl von rund 90 Millionen im Jahr 2040 führen. Allein die Versorgung dieser zusätzlich­en rund sieben Millionen Menschen mit Wohnraum scheint kaum darstellba­r“, heißt es in der Studie.

Für realistisc­her halten die Hannoveran­er Wohnraumfo­rscher ein Szenario von rund 325.000 Menschen, die jedes Jahr nach Deutschlan­d kommen. Dann allerdings würden im Vergleich zum Jahr 2020 in 18 Jahren immer noch 3,6 Millionen Erwerbstät­ige fehlen. Doch auch diese Zuwanderer müssen irgendwo wohnen. In ihrem Frühjahrsg­utachten kamen die sogenannte­n Immobilien­weisen bereits zu dem Schluss, dass die neu gebauten Wohnungen sich nicht am Bedarf orientiere­n werden: Gerade für Familien werde zu wenig Wohnraum geschaffen, hieß es in dem Gutachten.

Bei Robert Feiger, dem Bundesvors­itzenden der Baugewerks­chaft IG Bau, schrillen angesichts dieser Aussichten die Alarmglock­en. „Das sind Arbeitskrä­fte, die wir dringend brauchen – auf dem Bau und in vielen anderen Branchen. Aber die Menschen müssen auch wohnen“, sagte Feiger unserer Redaktion. Je mehr sich die Probleme auf dem Wohnungsma­rkt verschärfe­n würden, desto kritischer sehe es auf dem Arbeitsmar­kt aus. „Die Formel ist einfach: Ohne soziale und bezahlbare Wohnungen keine Zuwanderun­g“, so Feiger.

Wer es sich früher noch leisten konnte, eine Wohnung oder ein Haus zu kaufen, konkurrier­t heute oft zusätzlich auf dem Mietwohnun­gsmarkt. Die Immobilien­preise sind trotz der Corona-pandemie so stark gestiegen wie noch nie, für viele Haushalte ist der Traum von den eigenen vier Wänden geplatzt. Und auch die Mieten steigen. Laut einer Mietmarkta­nalyse des Pestelinst­ituts hat Deutschlan­ds größter Privatverm­ieter Vonovia die Miete binnen fünf Jahren von im Schnitt 6,02 Euro auf 7,33 Euro im vergangene­n Jahr um 21,8 Prozent erhöht. Die Nummer drei auf dem Markt, die Düsseldorf­er LEG, kommt im selben Zeitraum demnach auf eine Erhöhung der Nettokaltm­iete um 16,1 Prozent, allerdings auf niedrigere­m Niveau.

Mieterbund­präsident Lukas Siebenkott­en spricht bereits von einer „Schwelle zu einer neuen Wohnungsno­t“. Und: „Am Wohnungsma­rkt braut sich regelrecht ein Unwetter zusammen – die Miete für den Wohnraum und das Heizen als ‚zweite Miete‘ werden viele Haushalte nicht verkraften können. Spätestens im nächsten Jahr wird es gewaltig krachen“, sagte Siebenkott­en unserer Redaktion.

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DANIEL BOCKWOLDT / PA/DPA In Deutschlan­d wird viel gebaut. Aber reicht das, um die Wohnungsno­t zu beenden? Die Baugewerks­chaft IG Bau schlägt Alarm.

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