„Missbrauch amtlicher Autorität“
Bundesverfassungsrichter Huber über das Merkel-urteil, seine Unabhängigkeit und eine Rückkehr nach Thüringen
Erfurt. Peter Michael Huber (63) baute in den 1990er-jahren die Juristische Fakultät in Jena mit auf; ab 2009 amtierte er ein Jahr als Thüringer Innenminister. Seit 2010 ist der Münchner Rechtsprofessor Richter am Bundesverfassungsgericht. Er gehört dem Zweiten Senat an, der die frühere Bundeskanzlerin Angela Merkel nach einer Klage der AFD für Äußerungen zur Wahl von Thomas Kemmerich zum Ministerpräsidenten rügte. Wir sprachen mit ihm.
Herr Huber, die Entscheidung fiel mit knapper Mehrheit, fünf zu drei. Wie haben Sie geurteilt?
Wie im Einzelnen abgestimmt wurde, unterliegt dem Beratungsgeheimnis. Ich habe kein Sondervotum gegen die Mehrheitsmeinung abgegeben. Im Übrigen habe ich mich schon in wissenschaftlichen Veröffentlichungen zu der in Rede stehenden Rechtsfrage geäußert.
Was werfen Sie Angela Merkel vor? Der Senat hat der früheren Kanzlerin gar nichts vorgeworfen. Er hat aber festgestellt, dass sie mit der Art und Weise ihrer Äußerung ihr Amt und seine Ressourcen zu Unrecht für parteipolitische Zwecke genutzt hat. Sie hatte im Februar 2020 auf ihrem Staatsbesuch in Südafrika, in ihrem Amt als Bundeskanzlerin, die Wahl Kemmerichs zum Ministerpräsidenten kritisiert und in der Sache die AFD angegriffen. Damit hat sie in einseitiger Weise in den politischen Wettbewerb eingegriffen und das in Artikel 21 des Grundgesetzes festgeschriebene Recht auf Chancengleichheit der Parteien verletzt. Die AFD konnte sich nicht in gleicher Weise – auf einem Staatsempfang unter den Augen der Weltpresse und ausgestattet mit den Insignien der Macht – gegen die Bundeskanzlerin, die CDU oder die Koalition wenden. Ohne Chancengleichheit aber gibt es keinen freien Willensbildungsprozess und letztlich auch keine freien Wahlen. Polen, Ungarn, die Türkei oder Russland stehen für einen abschüssigen Pfad, den wir in Deutschland auf keinen Fall betreten dürfen. Hier gilt: Wehret den Anfängen.
Aber gilt für Angela Merkel nicht auch die Meinungsfreiheit?
Für die Bürgerin Merkel natürlich, für die Bundeskanzlerin Merkel dagegen nicht. Wenn sie als Kanzlerin handelt, handelt die Bundesrepublik Deutschland und nicht die Bürgerin Merkel. So war es in Südafrika.
Hätte sie danach, bei einem Treffen mit mitreisenden Journalisten etwa, ihre persönliche Meinung geäußert oder diese über die Parteizentrale verbreiten lassen, also hätte sie die Äußerung nicht im Zusammenhang mit einer Amtshandlung getätigt, dann wäre verfassungsrechtlich nichts zu beanstanden gewesen. Es hätte aber natürlich auch nicht diese Wirkung entfaltet. Es ging also nicht darum, was sie gesagt hat, sondern darum, in welchem Rahmen und welcher Funktion dies geschah – und darum, dass sie die Rede auf der Homepage des Kanzleramtes veröffentlichen ließ.
Ist die Unterscheidung zwischen Privatperson und Amt nicht künstlich? Nein. Sie ist notwendig, weil sonst die Regierenden die mit ihrem Amt verbundenen Ressourcen hemmungslos missbrauchen könnten. Auch der Landrat, der über Ihren Bauantrag entscheidet – oder der Richter, der Ihnen in seiner Eigenschaft als Bundesverfassungsrichter und nicht als Rechtsprofessor oder Cdu-mitglied ein Interview gibt – muss die durch sein Amt gezogenen Grenzen achten. Was würden Sie denken, wenn ich jetzt über eine mir nicht sympathische Partei herzöge? Das Wettbewerbsrecht kennt den Tatbestand des „Missbrauchs amtlicher Autorität“. Der Sache nach geht es hier um nichts anderes.
Meinen Sie? Wären Merkels Äußerungen bei einem nachträglichen Statement nicht ebenso wahrgenommen worden?
Das bezweifle ich.
Das Bundeskanzleramt argumentiert, dass es der Kanzlerin nicht um Parteipolitik, sondern um die Stabilität der Bundesregierung mit der SPD ging. Ist das nicht plausibel?
Es wäre dann plausibel, wenn die Bundesregierung und die sie damals tragende Koalition von CDU, CSU und SPD tatsächlich auf der Kippe gestanden hätten. Aber dies konnte der Senat nicht feststellen. Zum Zeitpunkt von Merkels Auftritt in Südafrika hatten sich die Vorsitzende der CDU und das oberste Parteigremium eindeutig von der Wahl Kemmerichs distanziert und zur Neuwahl des Thüringer Landtags aufgerufen. Die Union hatte sich also klar positioniert. Auch hatte die Kanzlerin mit dem Koalitionspartner gesprochen und das weitere Vorgehen verabredet. Der Senat konnte vor diesem Hintergrund nicht erkennen, dass die Beeinträchtigung der Chancengleichheit der AFD erforderlich war, um die Bundesregierung zu stabilisieren.
Besondere Kritik erzeugte Merkels Formulierung, die Wahl Kemmerichs müsse „rückgängig gemacht“werden. Tangiert sie das im Grundgesetz verankerte Demokratieprinzip? Diese Frage war nicht zu entscheiden. Und sie stellte sich auch nicht, weil Herr Kemmerich zurücktrat. Wie die Sache gelaufen wäre, wenn er im Amt geblieben wäre und einen Bund-länder-streit zwischen der Thüringer Landesregierung und der Bundesregierung angestrengt hätte, darüber kann man nur spekulieren.
Das Urteil gegen Merkel war ein seltener Erfolg der AFD in Karlsruhe – was nicht nur in der Partei den Verdacht nährt, dass das Bundesverfassungsgericht nicht neutral und unabhängig agiere. Was sagen Sie dazu?
Der Vorwurf ist absurd.
Es wird darauf verwiesen, dass die Richter zum Abendessen im Bundeskanzleramt waren, dass der Gerichtspräsident Stephan Harbarth ein alter Cdu-vertrauter Merkels sei . . .
Die AFD hatte ja im Vorfeld der mündlichen Verhandlung einen Befangenheitsantrag gegen den gesamten Senat gestellt, zu dem wir in einem Beschluss im Juli 2021 festgestellt haben: Die regelmäßigen Treffen des Bundesverfassungsgerichts mit der Bundesregierung zum Gedankenund Erfahrungsaustausch sind Ausdruck des Respekts zwischen den Verfassungsorganen sowie der kooperativen Gewaltenteilung des Grundgesetzes. Vergleichbare Treffen gibt es auch mit anderen Verfassungsorganen, unter anderem mit Abgeordneten aus allen Fraktionen des Deutschen Bundestages einschließlich der Fraktion der AFD, ohne dass dies von ihr je beanstandet worden wäre. Es gibt diese Treffen auch mit gesellschaftlich relevanten Gruppen wie Gewerkschaften oder Kirchen. Im Übrigen war Herr Harbarth in unserem Fall nicht zur Entscheidung berufen. Und dass der Erste Senat die Bundesregierung zuletzt anders behandeln würde, als in den 70 Jahren davor, kann ich nicht erkennen.
Sie erhielten also im Kanzleramt keine freundlichen Hinweise?
Wer das behauptet, produziert Verschwörungstheorien. Ich persönlich habe in meiner fast zwölfjährigen Zeit am Verfassungsgericht nicht ein einziges Mal erlebt, dass jemand auch nur versucht hätte, auf mich Einfluss zu nehmen oder mich gar unter Druck zu setzen.
Zwölf Jahre: Das ist eine Amtszeit in Karlsruhe. Sie scheiden im November aus. Was kommt danach?
Ich bin seit 2002 noch immer Professor für Öffentliches Recht an der Ludwig-maximilians-universität in München – natürlich nur auf Sparflamme, weil die Verpflichtungen als Richter vorgehen. Ich freue mich darauf, wieder mehr lehren und forschen zu können.
Sie waren bis zum Ruf nach Karlsruhe Innenminister in Erfurt. Wäre eine Rückkehr in die Politik denkbar, vielleicht sogar nach Thüringen? In zwei Jahren ist Landtagswahl …
Das Innenministerium war ein einjähriges Abenteuer, von dem ich sehr profitiert habe, für mein Richteramt und für mein Verständnis von politischen Abläufen. Ich habe damals sehr viel gelernt. Ansonsten: Ich bin seit 25 Jahren Mitglied der Thüringer CDU.
Das heißt, Sie würden wieder ein Amt in Thüringen annehmen?
Das heißt, dass es von vielen Unwägbarkeiten abhinge. Würde ich gebraucht? Wo würde ich gebraucht? Und wie ließ sich dies dann mit meiner früheren Tätigkeit als Verfassungsrichter vereinbaren? Aber das ist alles Spekulation. Ich bin, wie gesagt, mit meiner Professur in München sehr zufrieden.
Das ist kein Nein.
Das ist kein kategorisches Nein.