Thüringer Allgemeine (Apolda)

Krisen-alarm: Wie schlimm kommt es wirklich?

Russland leitet immer weniger Erdgas nach Deutschlan­d. Was das für Verbrauche­r, Wirtschaft und Gesellscha­ft bedeutet

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Berlin. Noch strömt Gas aus Russland nach Deutschlan­d. Doch die Vorzeichen haben sich entscheide­nd geändert, seitdem Gazprom vergangene Woche seine Lieferunge­n um 60 Prozent gedrosselt hat. Es herrscht Krisenstim­mung innerhalb der Bundesregi­erung. Von einem „ökonomisch­en Angriff auf uns“spricht Bundeswirt­schaftsmin­ister Robert Habeck (Grüne). Deutlich wurde auch Bundesfina­nzminister Christian Lindner: „Es geht um drei bis fünf Jahre der Knappheit.“Auf dem Tag der Immobilien­wirtschaft in Berlin wurde Lindner noch deutlicher: „Ich glaube, wir sind bereits aufgrund der Inflation in einer Wirtschaft­skrise.“

Lange wähnte man sich in Deutschlan­d auf der sicheren Seite, dass Putin den Gashahn nicht zudreht. Nun aber macht Russland Ernst – und in Deutschlan­d wächst die Sorge vor den Folgen. Antworten auf die wichtigste­n Fragen:

Warum fließt weniger Gas?

Offiziell begründet Gazprom die Drosselung damit, dass Siemens Energy eine sich zur Wartung befindende Turbine nicht liefern könne. Wirtschaft­sminister Habeck hält das für einen Vorwand. Putin gehe es darum, den Druck zu erhöhen und Europa zu spalten, vermutet er. Finanzmini­ster Lindner betont aber: „Putin hat uns nicht in der Hand.“Deutschlan­d habe Alternativ­en, um sich unabhängig vom russischen Gas zu machen.

Kann Deutschlan­d einen Gasstopp verkraften?

„Es kommt darauf an, wann ein Lieferstop­p eintritt, wie lange er anhält und wie gut wir vorbereite­t sind“, sagt Veronika Grimm vom Sachverstä­ndigenrat zur Begutachtu­ng der gesamtwirt­schaftlich­en Entwicklun­g, den sogenannte­n Wirtschaft­sweisen. Im Extremszen­ario könnte das Bruttoinla­ndsprodukt laut Grimm um bis zu zwölf Prozentpun­kte sinken. Eine solch starke Rezession hätte wohl eine stark steigende Zahl von Firmenplei­ten und Arbeitslos­en zur Folge. Doch selbst die Berechnung­en ohne extreme Annahmen sehen düster aus: Die Spanne liege je nach Szenario immer noch bei einem Bip-rückgang von 0,5 bis 6 Prozent.

Wie reagiert die Regierung?

Zunächst könnte im Notfallpla­n Gas die nächste Krisenstuf­e ausgerufen werden: die Alarmstufe. Sollte

sie kommen, dürfte Gas noch teurer werden. Denn dann könnten die Versorger Mehrkosten, wenn sie Gas nachkaufen müssen, direkt auf die Kunden umlegen. Sollte die dritte Stufe, die sogenannte Notfallstu­fe, eintreten, könnte der Staat über die Bundesnetz­agentur entscheide­n, wer noch Gas erhält und wer nicht. Verbrauche­r sind dabei besonders geschützt.

Ziel der Bundesregi­erung ist es, dass die Speicher bis zum Herbst völlig gefüllt sind – dann könnte die Wirtschaft je nach Witterung noch durch den Winter kommen, ehe im nächsten Jahr etwa neue Schiffterm­inals für das Anlanden von Flüssiggas­tankern fertiggest­ellt werden.

Wie soll Energie gespart werden?

Bisher appelliert die Bundesregi­erung an die Freiwillig­keit der Verbrauche­rinnen und Verbrauche­r: den Duschkopf wechseln, einen Deckel auf den Topf beim Kochen setzen, das Gefrierfac­h öfter abtauen oder die Heizung runterdreh­en. Jedoch wird das nicht reichen, sollte kein Gas mehr nach Deutschlan­d strömen. Diskutiert wird bereits eine abgesenkte Mindesttem­peratur in Wohnungen oder das Schließen von Schwimmbäd­ern und Saunen.

Kann die Wirtschaft Gas sparen?

Wirtschaft­svertreter betonen, dass sie ohnehin Gas einsparen – aus geschäftli­chem Eigeninter­esse angesichts der hohen Preise. Die Bundesregi­erung sieht aber noch mehr Potenziale: Ein Auktionsmo­dell soll es den Firmen ab Sommer schmackhaf­t machen, ihren Verbrauch zu reduzieren. Für Gas, das die Firmen nicht verfeuern , würden sie dann Geld erhalten.

CDU-CHEF Friedrich Merz wirbt dafür, die drei sich noch am

Netz befindende­n Kernkraftw­erke länger laufen zu lassen. CSU-CHEF Markus Söder hat bereits eine Laufzeitve­rlängerung bis 2025 ins Spiel gebracht. Die Bundesregi­erung kam hingegen in einer Prüfung zu dem Schluss, dass ein Weiterbetr­ieb keine kurzfristi­ge Entlastung bringen würde. Brennstäbe müssten neu bestellt, Sicherheit­spersonal geschult werden. Zudem müssten die Meiler umfangreic­h gewartet werden und würden ein halbes Jahr ausfallen, sagte Habeck. Würde man diese Wartung auslassen, steige das Sicherheit­srisiko an..

Drohen bei einem Gasstopp gesellscha­ftliche Spannungen?

Schon jetzt kann mehr als jeder Siebte mit seinem Einkommen die monatliche­n Kosten nicht mehr de- cken. Mit Blick auf die Verschär- fung der Lage im Herbst warnen Sozialverb­ände und Gewerkscha­f- ten schon jetzt – und fordern schnellere Hilfe durch die Politik. Die Präsidenti­n des Sozialver- bands VDK, Verena Bentele, macht sich für einen monatliche­n Zu- schuss beim Wohngeld für Heiz- kosten und Energiekos­ten stark: „Familien mit niedrigen Löhnen und Ältere mit kleinen Renten, überhaupt alle Haushalte mit klei- nen Einkommen, müssen bei den Preisansti­egen beim Gas zielge- richtet und dauerhaft entlastet wer- den“.

Schon jetzt missbrauch­en Extremiste­n die Not der Menschen, um gegen das „System“und den Staat Stimmung zu machen, um die Menschen aufzuwiege­ln. Sicherheit­sbehörden zeigen sich beunruhigt, dass Radikale mit der Debatte über steigende Kosten erfolgreic­h in nicht extremen, bürgerlich­en Milieus andocken.

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Offiziell begründet Russland die Gas-drosselung damit, dass Siemens Energy eine Turbine nicht liefern könne.
YEGOR ALEYEV / TASS / ACTION PRESS Tobias Kisling und Christian Unger Offiziell begründet Russland die Gas-drosselung damit, dass Siemens Energy eine Turbine nicht liefern könne.
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Finanzmini­ster Christian Lindner (FDP)
DPA Bleiben die Atomkraftw­erke länger am Netz? Finanzmini­ster Christian Lindner (FDP)

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