Linke einigt sich – vorläufig
Schirdewan und Wissler in Erfurt an Parteispitze gewählt. Niederlage von Wagenknecht-flügel
Erfurt. Nach dem Bundesparteitag der Linken in Erfurt hat sich Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke) zufrieden geäußert. Die Wahlen der Parteispitze seien „gut gelaufen“, sagte er dieser Zeitung. Die gleichzeitig beschlossene Verkleinerung des Bundesvorstandes zeige, welchen Reformbedarf die Linke habe.
Auf der dreitägigen Versammlung hatte sich der Reformerflügel in Personalund Inhaltsfragen gegen das von Sahra Wagenknecht geführte Lager durchgesetzt. Die bisherige Vorsitzende Janine Wissler und der thüringische Europaabgeordnete Martin Schirdewan bilden die neue Doppelspitze. Ihre Gegenbewerber Heidi Reichinnek und Sören Pellmann kamen aber jeweils auf mehr als 30 Prozent der Stimmen.
„Das Ergebnis repräsentiert die Mehrheit der Delegierten, aber auch die Mehrheit der Partei“, sagte die Thüringer Bundestagsabgeordnete Martina Renner, die nicht mehr als Bundesvizechefin antrat. Schirdewan habe als Fraktionschef im Europaparlament gezeigt, dass er sehr unterschiedliche Gruppen zueinanderbringen könne. „Ich appelliere an jene, die nicht diese Parteispitze gewählt haben, sich für den Neustart einzubringen“, sagte sie dieser Zeitung.
Die frühere Bundestagsfraktionschefin Wagenknecht, die in Erfurt nicht dabei war, reagierte mit Kritik. „Nach diesem Parteitag gibt es kaum Hoffnung, dass die Linke ihren Niedergang stoppen kann“, sagte sie der Deutschen Presseagentur. Wissler und Schirdewan hätten beide Wahlniederlagen zu verantworten. „Wie eine Partei, die derzeit bei vier Prozent steht, mit dieser Aufstellung wieder nach oben kommen will, ist mir ein Rätsel“, erklärte Wagenknecht.
Der Leipziger Bundestagsabgeordnete Pellmann äußerte sich verdie ärgert nach seiner Niederlage. „Das ist kein Aufbruch“, sagte er dem „Spiegel“. Er werde über Konsequenzen nachdenken.
Parteispitze hatte sich zuvor auch mit dem Leitantrag zum Ukraine-krieg durchgesetzt. Darin wird die russische Aggression als völkerrechtswidrig und imperial verurteilt. Gleichzeitig bleibt es bei der Ablehnung von Waffenlieferungen. Ein Antrag Wagenknechts, der die Kritik an Russland abschwächen sollte, wurde abgelehnt.
„Es wurde herausgearbeitet, wer Angreifer und wer Angegriffener ist“, lobte Ramelow den Kompromiss. „Es eint uns der Wunsch nach Frieden und der Notwendigkeit, den russischen Krieg gegen die Ukraine zu stoppen.“
Die frühere Thüringer Eu-abgeordnete Gabi Zimmer forderte eine „klare strategische Orientierung“der Linken. „Die Partei hat in Erfurt nur eine gewisse Stabilisierung erreicht“, sagte sie auf Anfrage. „Die Hauptarbeit steht noch vor uns.“Vor allem müsse die Parteispitze deutlich stärker die Basis einbinden.
Ich glaube, das Signal ist eindeutig: Wir haben verstanden, als Linke. Wir sind wieder da, als Linke.
Martin Schirdewan ist neuer Vorsitzender der Linkspartei. Als Eu-abgeordneter leitet er derzeit noch die Fraktion der Linken in Brüssel.
Erfurt. Da sitzt er in der zweiten Bankreihe, in schwarzer Hose und schwarzem Polohemd, und probiert ein vorsichtiges Lächeln. Ein gutes Dutzend Kameraleute und Fotografen haben ihre Objektive auf ihn gerichtet; die an langen Stäben befestigten Mikrofone hängen wie Tentakel über seinem Kopf.
Martin Schirdewan, fast 47 Jahre alt, Thüringer Europaabgeordneter und Chef der linken Fraktion im Eu-parlament, wartet auf die Bestätigung, dass er die Wahl zum Bundesvorsitzenden der Linken gewonnen hat. Um die tausend Delegierte, Gäste, Journalisten und Neugierige warten in der bunt ausgeleuchteten Erfurter Messehalle mit ihm.
Und das dauert. Die Linke hat, um elektronisch abstimmen zu können, die Laptops oder Tablets der Delegierten per WLAN zusammenschalten lassen. Dies erweist sich als gleichermaßen störanfällig wie langwierig, weshalb Schirdewan nun lange Minuten möglichst cool in die Kameras schauen muss. Es fällt ihm sichtlich schwer.
Aber was ist schon leicht in dieser Linkspartei. Spätestens seit sie im vergangenen Herbst bei der Bundestagswahl auf 4,9 Prozent abstürzte und nur über den Umweg der drei Direktmandate wieder eine Fraktion bilden konnte, war vieles nur noch Krampf und Kampf. Lager stand gegen Lager, Parteifunktionäre gegen Abgeordnete, Landesverband gegen Landesverband.
Die nachfolgenden Landtagswahlen wurden zur Katastrophenserie. Die Bundesvorsitzende Janine Wissler geriet nach Missbrauchsvorwürfen gegen ihren Ex-partner ins Zentrum eines parteiinternen Sexismus-skandals. Und ihre thüringische Co-vorsitzende Susanne Hennig-wellsow trat mal eben zurück. Spätestens damit war der Neustart, den die beiden Frauen im Pandemiewinter 2021 ausgerufen hatten, komplett gescheitert.
Und so hat sich die Partei hier in Erfurt versammelt, um in drei Tagen alle Probleme auf einmal zu lösen: mit der Neuwahl des Vorstands, mit Strukturreformen, mit einer Metoodebatte und mit einem Kompromiss in der Krieg-und-frieden-frage, die zuletzt die Linke zerriss.
Zumindest in Teilen funktioniert der Plan besser, als viele in der Partei befürchtet hatten. Der Jubel zur Eröffnungsrede Wisslers am Freitag zeigt, dass die Mehrheit der gut 500 Delegierten bereit ist, der Vorsitzenden eine zweite Chance zu geben.
Derweil versucht der parteieigene Ministerpräsident Bodo Ramelow, seine Pro-waffen-für-die-ukrainehaltung zumindest rhetorisch halbwegs in Übereinstimmung mit der Anti-waffen-meinung der Partei zu bringen – was die Mehrheit der Delegierten zumindest hinnimmt.
Der Aufruf zur Geschlossenheit, der in fast keiner Rede fehlt: Er scheint zu verfangen.
Gegen den russischen Angriff und gegen Waffenlieferung
Nach der Generaldebatte und einer kollektiven Selbstreflektion zum Thema Sexismus, die bis in den späten Freitagabend andauert, wird am Samstag über den Ukraine-krieg verhandelt. Der Bundesvorstand hat einen Leitantrag vorgelegt, der versucht, das linke Dilemma aufzudröseln. Erstens, heißt es darin, bleibe es bei der Kritik an Nato und Osterweiterung. Zweitens rechtfertigten Fehler des Westens aber in keiner Weise den russischen Angriffskrieg, der schärfstens zu verurteilen sei. Trotzdem dürften, drittens, keine Waffen geliefert werden.
Pazifistisch gegen Putin: So ungefähr lautet der Formelkompromiss.
Die Begründungen dafür, einem überfallenen Land die Hilfe im Verteidigungskrieg zu verweigern, variieren von Redner zu Redner. Während
einige pauschal erklären, dass Waffen immer schlecht seien, wiederholt Gregor Gysi sein Argument, dass Deutschland aufgrund seiner historischen Schuld ein Sonderfall sei. Die Ukraine, so die indirekte Schlussfolgerung, müsse sich ihre Waffen halt woanders besorgen.
Der einstige Vorsitzende der SED-PDS, die zu PDS, Linkspartei und schließlich zur Linken wurde, sieht sein Lebensprojekt in einer „existenziellen Krise“. „Entweder wir retten unsere Partei, oder wir versinken in Bedeutungslosigkeit“, ruft er. Das „Klima der Denunziation“müsse enden: „Unser Streit ist bereits in den Medien, bevor er überhaupt stattgefunden hat.“
Die Partei sollte ihren „Zweck für die Gesellschaft“definieren und dürfe nicht mehr „Laden für die 1000 kleinen Dinge“sein, sagt Gysi. Alle „unwesentlichen Fragen“seien beiseitezuschieben.
Wesentlich für ihn, sagt er, seien Arbeitnehmerinteressen, Sozialfragen, Klimapolitik, Gleichberechtigung, Frieden, Ostdeutschland – und unwesentlich, zum Beispiel, das Gender-sternchen. Das „gehobene Bürgertum“, ruft er, wolle die Rechtschreibung ändern: „Ich will die Verhältnisse verändern.“
Die Reaktion im Publikum wirkt für Gysi-verhältnisse verhalten. „Eine Frechheit“sei die Bemerkung zum Gendern gewesen, ruft gar eine junge Frau ins Saalmikrofon.
Dennoch, die Situation eskaliert nicht, ebenso wenig wie der Streit zur Ukraine. Die Änderungsanträge, von denen die wichtigsten aus dem Lager Sahra Wagenknechts stammen, kommen nicht durch. Die einstige Bundestagsfraktionschefin kann nicht widersprechen, da sie gar nicht angereist ist. Eine mögliche Infektion, heißt es.
Auch die wichtige Satzungsänderung, die den Bundesvorstand um etwa ein Drittel reduziert, wird ohne größeres Gewese angenommen. Es folgen die Wahlen der Vorsitzenden, allesamt mit Kampfkandidaturen. Wissler wird mit 57 Prozent als Vorsitzende bestätigt; ihre Gegenbewerberin Heidi Reichinnek erhält knapp 36 Prozent. Dies ist wohl das, was gerne in der Politik als „ehrliches Ergebnis“bezeichnet wird.
Ein halbes Dutzend Gegenkandidaten
Gegen Martin Schirdewan treten gleich sechs Konkurrenten an, darunter der Leipziger Bundestagsabgeordnete Sören Pellmann. Schließlich, es ist Samstag, kurz vor 17 Uhr, wartet der Europaabgeordnete von Kameras umringt auf das Ergebnis und auf einen, ja, auch historischen Moment. Immerhin soll er, der Enkel des Sed-politbüromitglieds Karl Schirdewan, Chef der Sed-nachfolgepartei werden.
Schirdewan hat bloß eine mittelprächtige Rede gehalten – aber die politische Arithmetik auf seiner Seite. Als sogenannter ostdeutscher Reformer repräsentiert er gemeinsam mit der westdeutschen Marxistin Wissler die Breite der Partei. Pellmann hingegen gilt als irrlichternder Wagenknechtianer.
Endlich wird das Ergebnis verkündet: 61 Prozent für Schirdewan. Pellmann kommt auf 31 Prozent.
Für das Lager Wagenknechts ist dies eine Niederlage. Die Thüringer Bundestagsabgeordnete Martina Renner, die bisher stellvertretende Parteivorsitzende war, wirkt hingegen sehr zufrieden. Denn auch wenn der Berliner Schirdewan eher aus taktischen Gründen dem Thüringer Verband angehört: Die Landespartei des einzigen Ministerpräsidenten bleibt mit ihrem Ansatz „sozialistischer Realpolitik“in der Spitze vertreten. Zumal, auch der Ukraine-konsensantrag, mit dem sich ein Bodo Ramelow durchaus arrangieren kann, wird am Sonntag final angenommen.
Und Susanne Hennig-wellsow? Sie war so frei, dem Parteitag in ihrer Heimatstadt fernzubleiben.