Damit die Toten nicht einfach liegen bleiben
Oleksiy Yukov birgt mit seinem Team gefallene Soldaten im ukrainischen Kampfgebiet – auch die der Feinde
Slowjansk. Der Mann ist gerade erst von einer Mission zurückgekehrt. Er hatte noch keine Zeit, seine tarnfarbene Splitterschutzweste auszuziehen. Auf der Wand seines weißen Kühllasters mit dem roten Kreuz steht fett gedruckt 200. Die Zahl 200 zeigt an, dass Tote transportiert werden, die 300 steht für den Transport von Verletzten. Ein medizinischer Identifikationscode. Die Russen haben die gleichen Codes. „Damit wir uns gegenseitig erkennen“, sagt Oleksiy Yukov. Neben der Zahl: eine gemalte schwarze Tulpe.
„Schwarze Tulpe“, das sei der Spitzname des sowjetischen Transportflugzeugs gewesen, in dem die Zinksärge der in Afghanistan gefallenen Soldaten zurücktransportiert wurden. Der junge Mann trägt einen akkuraten Kinnstreifenbart. „Wenn die Russen sie abheben sahen, sagten sie: Wieder eine Ladung schwarze Tulpen, die sich über das Land ergießen. In Erinnerung an diese Geschichte hat Oleksiy Yukov, 36, seine Organisation „Schwarze Tulpe“genannt. Sie will nicht den Lebenden helfen, sondern den Toten.
Seit 2014 fährt der junge Mann aus Slowjansk mit seinem Kühllaster die Front ab, um die Leichen getöteter Soldaten, Russen wie Ukrainer, zu bergen und sie entweder würdig zu bestatten oder sie mit der Gegenseite auszutauschen. Es sind Hunderte – jede Woche. Am 6. Januar 2021 wurde er vom ukrainischen Verteidigungsministerium für seine
Unterstützung der Armee ausgezeichnet.
Oleksiy Yukov kennt jeder in den Straßen von Slowjansk, der großen Stadt im umkämpften Donbass nahe der Front. Die Einwohner, die nicht geflohen sind, halten bei seinem weißen Lieferwagen an und bitten ihn um ein Selfie oder danken ihm. Auch ein Soldat erkennt ihn und grüßt ihn mit größtem Respekt. „Vielen Dank für alles, was du für uns tust!“Dann fragt ihn der Soldat nach seiner Telefonnummer und sagt zu ihm: „Leider werden wir dich brauchen.“Dann quetscht er sich in seinen Geländewagen.
Die Frage, wie man die Leichname der getöteten Soldaten bergen kann, ist den Ukrainern wichtig. Manchmal bleiben die Toten monatelang liegen, ohne dass sich jemand kümmert. Den Russen sei das egal, sagt Yukov. Für sie sei ein toter Soldat ein nutzloser Soldat.
Yukov selbst denkt anders: „Sie sind unsere Feinde, aber wenn sie einmal tot sind, sind sie wie alle anderen auch. Und jeder hat das Recht auf ein Grab. Außerdem kann man ja ihre Leichen gegen die der Unseren tauschen …“Um den Menschen zu zeigen, was sie machen, haben Yukov und seine Freiwilligen eine Internetseite mit dem Namen „Platsdarm“kreiert, auf der sie davon erzählen. Das Ziel: Auch russische Familien sollen sehen und begreifen, wie blutig ihre Streitkräfte den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg in der Ukraine führen.
Schon ganz zu Beginn des Krieges hat Yukov seine Familie aus dem
Donbass in den Westen der Ukraine geschickt. In Sicherheit. Jetzt fährt er mit seinem Kühllaster meist in die umkämpfte Region um Donezk, Charkiw und Luhansk und räumt ein, dass es eine monumentale Aufgabe ist. Dabei sind sie nur zu viert. Seine Gruppe und er erhalten jeden Tag Hunderte von Anrufen oder Nachrichten mit Ortsnamen, Spuren, Beschreibungen. Weil sie sich nicht um alle kümmern können, rufen sie die Abschnittskommandanten an, die ihnen dann bestätigen oder eben nicht, ob an den Orten tote Soldaten liegen. Und sie liefern Yukovs Leuten überlebenswichtige Informationen: über die Gefechtslage, über die Bewegung der Truppen, der Front.
„Die Bergung der Leichen hilft den Lebenden zu trauern“
Auch wenn der Zweite Weltkrieg schon seit Jahrzehnten vorbei ist, gibt die ukrainische Erde, die vom Krieg aufgewühlt wird, immer wieder Leichen und Spuren der Vergangenheit frei. Mit 13 nahm Yukovs Bruder ihn mit in den Wald. Dort gab es ganze Knochenhaufen von Soldaten aus dem Zweiten Weltkrieg.
Marodeure hatten sie auf der Suche nach Wertgegenständen ausgegraben und übereinandergestapelt. Auf den Haufen lagen Abzeichen, alte Dolche und völlig verrostete Munition.
Angesichts der Haufen an Knochen fragte sich der junge Yukov: Warum haben diese Toten keine Grabstätte? Sie können doch nicht einfach so draußen liegen bleiben, so vergessen und von wilden Tieren zernagt. „Es waren doch Menschen wie ich.“Er schweigt, dann sagt er nachdenklich: „Ich habe das getan, was ich mir wünsche, dass man es mit mir macht, wenn ich an ihrer Stelle wäre“.
Als der Krieg der ukrainischen Armee gegen die pro-russischen Separatisten 2014 im Donbass ausbricht, will Yukov helfen. Er bietet an, was er am besten kann: Leichen bergen. „Viele Leute verstehen nicht, dass man sein Leben dafür riskiert, Tote zu suchen.“Er hingegen denke, dass die Menschen genau das von den Tieren unterscheide. „Und ich denke, dass die Bergung der Leichen den Lebenden hilft zu trauern und weiterzuleben.“
Yukov und sein Team müssen sich beeilen, binnen 72 Stunden da sein, bevor die Tiere sich über die Leichen hermachen. Weder die Zeit noch das Wetter sind ihre Freunde. Wenn es heiß ist wie jetzt, zersetzen sich die Körper schnell und ziehen Raubtiere an.
Die Kampfzonen sind beweglich. „Wir wissen nie, was auf uns zukommt, wenn wir losfahren“, erklärt Yukov. Tote oder Verletzte. Vorsorglich haben er und seine „Schwarzen Tulpen“Essen dabei und Medikamente, die sie von Ärzten bekommen haben.
Vor einigen Wochen sind die „Schwarzen Tulpen“aufgefordert worden, in die Stadt Lyman zu kommen, die von den Russen eingeschlossen war. Mitten im Bombenhagel kommen sie an, laden die Leichen in den Kühllaster, während die Russen schon in die Stadt einmarschieren. Als ukrainische Soldaten am nächsten Tag Yukovs Team nicht wiedersehen, sind sie überzeugt, dass die Helfer tot sind oder gefangen genommen wurden.
Oleksiy Yukov und seine Truppe hatten auch mehrere Male Gelegenheit, auf der anderen Seite der Front, bei den Separatisten, Leichen zu bergen. „Das war dem Roten Kreuz zu verdanken. Aber sobald wir ins Territorium der Separatisten bei Swatowe im Oblast Luhansk kamen, wurden wir von Raketenwerfern unter Beschuss genommen. Wir mussten umkehren.“
Oleksiy Yukov sagt, er spüre seit 23 Jahren Leichen auf. „Ich weiß, dass das Gesicht des Krieges nur aus Wahnsinn und Tod besteht.“