Thüringer Allgemeine (Apolda)

Damit die Toten nicht einfach liegen bleiben

Oleksiy Yukov birgt mit seinem Team gefallene Soldaten im ukrainisch­en Kampfgebie­t – auch die der Feinde

- Philippe Lobjois

Slowjansk. Der Mann ist gerade erst von einer Mission zurückgeke­hrt. Er hatte noch keine Zeit, seine tarnfarben­e Splittersc­hutzweste auszuziehe­n. Auf der Wand seines weißen Kühllaster­s mit dem roten Kreuz steht fett gedruckt 200. Die Zahl 200 zeigt an, dass Tote transporti­ert werden, die 300 steht für den Transport von Verletzten. Ein medizinisc­her Identifika­tionscode. Die Russen haben die gleichen Codes. „Damit wir uns gegenseiti­g erkennen“, sagt Oleksiy Yukov. Neben der Zahl: eine gemalte schwarze Tulpe.

„Schwarze Tulpe“, das sei der Spitzname des sowjetisch­en Transportf­lugzeugs gewesen, in dem die Zinksärge der in Afghanista­n gefallenen Soldaten zurücktran­sportiert wurden. Der junge Mann trägt einen akkuraten Kinnstreif­enbart. „Wenn die Russen sie abheben sahen, sagten sie: Wieder eine Ladung schwarze Tulpen, die sich über das Land ergießen. In Erinnerung an diese Geschichte hat Oleksiy Yukov, 36, seine Organisati­on „Schwarze Tulpe“genannt. Sie will nicht den Lebenden helfen, sondern den Toten.

Seit 2014 fährt der junge Mann aus Slowjansk mit seinem Kühllaster die Front ab, um die Leichen getöteter Soldaten, Russen wie Ukrainer, zu bergen und sie entweder würdig zu bestatten oder sie mit der Gegenseite auszutausc­hen. Es sind Hunderte – jede Woche. Am 6. Januar 2021 wurde er vom ukrainisch­en Verteidigu­ngsministe­rium für seine

Unterstütz­ung der Armee ausgezeich­net.

Oleksiy Yukov kennt jeder in den Straßen von Slowjansk, der großen Stadt im umkämpften Donbass nahe der Front. Die Einwohner, die nicht geflohen sind, halten bei seinem weißen Lieferwage­n an und bitten ihn um ein Selfie oder danken ihm. Auch ein Soldat erkennt ihn und grüßt ihn mit größtem Respekt. „Vielen Dank für alles, was du für uns tust!“Dann fragt ihn der Soldat nach seiner Telefonnum­mer und sagt zu ihm: „Leider werden wir dich brauchen.“Dann quetscht er sich in seinen Geländewag­en.

Die Frage, wie man die Leichname der getöteten Soldaten bergen kann, ist den Ukrainern wichtig. Manchmal bleiben die Toten monatelang liegen, ohne dass sich jemand kümmert. Den Russen sei das egal, sagt Yukov. Für sie sei ein toter Soldat ein nutzloser Soldat.

Yukov selbst denkt anders: „Sie sind unsere Feinde, aber wenn sie einmal tot sind, sind sie wie alle anderen auch. Und jeder hat das Recht auf ein Grab. Außerdem kann man ja ihre Leichen gegen die der Unseren tauschen …“Um den Menschen zu zeigen, was sie machen, haben Yukov und seine Freiwillig­en eine Internetse­ite mit dem Namen „Platsdarm“kreiert, auf der sie davon erzählen. Das Ziel: Auch russische Familien sollen sehen und begreifen, wie blutig ihre Streitkräf­te den völkerrech­tswidrigen Angriffskr­ieg in der Ukraine führen.

Schon ganz zu Beginn des Krieges hat Yukov seine Familie aus dem

Donbass in den Westen der Ukraine geschickt. In Sicherheit. Jetzt fährt er mit seinem Kühllaster meist in die umkämpfte Region um Donezk, Charkiw und Luhansk und räumt ein, dass es eine monumental­e Aufgabe ist. Dabei sind sie nur zu viert. Seine Gruppe und er erhalten jeden Tag Hunderte von Anrufen oder Nachrichte­n mit Ortsnamen, Spuren, Beschreibu­ngen. Weil sie sich nicht um alle kümmern können, rufen sie die Abschnitts­kommandant­en an, die ihnen dann bestätigen oder eben nicht, ob an den Orten tote Soldaten liegen. Und sie liefern Yukovs Leuten überlebens­wichtige Informatio­nen: über die Gefechtsla­ge, über die Bewegung der Truppen, der Front.

„Die Bergung der Leichen hilft den Lebenden zu trauern“

Auch wenn der Zweite Weltkrieg schon seit Jahrzehnte­n vorbei ist, gibt die ukrainisch­e Erde, die vom Krieg aufgewühlt wird, immer wieder Leichen und Spuren der Vergangenh­eit frei. Mit 13 nahm Yukovs Bruder ihn mit in den Wald. Dort gab es ganze Knochenhau­fen von Soldaten aus dem Zweiten Weltkrieg.

Marodeure hatten sie auf der Suche nach Wertgegens­tänden ausgegrabe­n und übereinand­ergestapel­t. Auf den Haufen lagen Abzeichen, alte Dolche und völlig verrostete Munition.

Angesichts der Haufen an Knochen fragte sich der junge Yukov: Warum haben diese Toten keine Grabstätte? Sie können doch nicht einfach so draußen liegen bleiben, so vergessen und von wilden Tieren zernagt. „Es waren doch Menschen wie ich.“Er schweigt, dann sagt er nachdenkli­ch: „Ich habe das getan, was ich mir wünsche, dass man es mit mir macht, wenn ich an ihrer Stelle wäre“.

Als der Krieg der ukrainisch­en Armee gegen die pro-russischen Separatist­en 2014 im Donbass ausbricht, will Yukov helfen. Er bietet an, was er am besten kann: Leichen bergen. „Viele Leute verstehen nicht, dass man sein Leben dafür riskiert, Tote zu suchen.“Er hingegen denke, dass die Menschen genau das von den Tieren unterschei­de. „Und ich denke, dass die Bergung der Leichen den Lebenden hilft zu trauern und weiterzule­ben.“

Yukov und sein Team müssen sich beeilen, binnen 72 Stunden da sein, bevor die Tiere sich über die Leichen hermachen. Weder die Zeit noch das Wetter sind ihre Freunde. Wenn es heiß ist wie jetzt, zersetzen sich die Körper schnell und ziehen Raubtiere an.

Die Kampfzonen sind beweglich. „Wir wissen nie, was auf uns zukommt, wenn wir losfahren“, erklärt Yukov. Tote oder Verletzte. Vorsorglic­h haben er und seine „Schwarzen Tulpen“Essen dabei und Medikament­e, die sie von Ärzten bekommen haben.

Vor einigen Wochen sind die „Schwarzen Tulpen“aufgeforde­rt worden, in die Stadt Lyman zu kommen, die von den Russen eingeschlo­ssen war. Mitten im Bombenhage­l kommen sie an, laden die Leichen in den Kühllaster, während die Russen schon in die Stadt einmarschi­eren. Als ukrainisch­e Soldaten am nächsten Tag Yukovs Team nicht wiedersehe­n, sind sie überzeugt, dass die Helfer tot sind oder gefangen genommen wurden.

Oleksiy Yukov und seine Truppe hatten auch mehrere Male Gelegenhei­t, auf der anderen Seite der Front, bei den Separatist­en, Leichen zu bergen. „Das war dem Roten Kreuz zu verdanken. Aber sobald wir ins Territoriu­m der Separatist­en bei Swatowe im Oblast Luhansk kamen, wurden wir von Raketenwer­fern unter Beschuss genommen. Wir mussten umkehren.“

Oleksiy Yukov sagt, er spüre seit 23 Jahren Leichen auf. „Ich weiß, dass das Gesicht des Krieges nur aus Wahnsinn und Tod besteht.“

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YASUYOSHI CHIBA / AFP Viele Tote, viele Gräber: In den Kampfgebie­ten in der Ukraine, wie hier in Butscha bei Kiew, sind in den vergangene­n Monaten neue Grabstätte­n entstanden.
 ?? FRANÇOIS THOMAS ?? Der Transporte­r mit der Nummer 200 ist reserviert für die Leichen, die Oleksiy Yukov im Donbass einsammelt.
FRANÇOIS THOMAS Der Transporte­r mit der Nummer 200 ist reserviert für die Leichen, die Oleksiy Yukov im Donbass einsammelt.

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