Amnesie im Auenland
Die Frage, wann sich eine Koalition oder, Ramelow behüte, gar eine Opposition der AFD bedienen darf, ganz egal, ob nun direkt oder indirekt, und ganz egal, ob für oder gegen etwas, erscheint seit den Erfurter Ereignissen des 5. Februar 2020 final beantwortet. Seither wurden alle Brandmauern befestigt, jedweder Damm aufgeschüttet und die tapfere Demokratiewehr aufgerüstet. Wir können es alle singen.
Der behauptete Konsens ist, dass Björn Höcke, der sich auch ohne das streng geheime Wirken des Amtes für Verfassungsschutz als schneidiger Rechtsextremist zu erkennen gab, keine Gestaltungs- oder gar Regierungsmacht im Freistaate Thüringen erlangen darf. Dieser Befund gilt gleichermaßen für seine Partei und Fraktion im Land, die ihm in der Mehrheit kritik- und bedingungslos folgen, als auch für die Bundespartei, die sich ihm inzwischen seufzend hingegeben hat.
Das sagenhafte Phänomen, wie ein beurlaubter Oberstudienrat ohne Führungsqualitäten aus der Provinz heraus eine Großorganisation von hinten führt, soll hier aber nicht weiter betrachtet werden. Es muss ja eine lesbare Kolumne werden.
Lieber widmen wir uns einer besonders pittoresken Politikergattung: dem ehemaligen Afd-abgeordneten. Beobachtet wurde sie erstmals im Jahr 2015, als Höcke (sorry) seinen ersten von inzwischen drei Bundesparteivorsitzenden erledigte. Bernd Lucke folgten damals eins, zwei tausend Mitglieder ins politische Exil.
Einige gingen sogar in Luckes neue Partei, die er erst Alfa nannte und dann, weil der Name schon vergeben war (nicht an das Auto, sondern an den Verein „Aktion Lebensrecht für Alle“) in „Liberal-konservative Reformer“umbenannte. (Die LKR (oh, das werden diesmal ganz viele Klammern) kam gelegentlich der jüngsten Bundestagswahl auf 0,024 Prozent der Zweitstimmen.
Damals, 2015, traten auch drei Abgeordnete aus der Thüringer Afd-landtagsfraktion aus. So, als seien sie dem Bann von Höckes (sorry sorry) Ring entflohen, schauten sie verblüfft im Auenland umher – und siehe, alles und alle waren plötzlich wieder gut, die Demokratie, die anderen Parteien und, oh Wunder: sogar die Journalisten! (Na gut, einige.)
Besonders beeindruckend verlief die Wiedererweckung des Oskar Helmerich, eines Rechtsanwalts aus Erfurt, der sich, ganz kurz nur, vom blauen Auge Höckes (sorry again) hatte blenden lassen, um dann, dem weisen Gandalf gleich, ins gleißende Licht der Sozialdemokratie zu schreiten. (Wir entschuldigen uns an dieser Stelle bei allen Schwiegervätern, die J.R.R. Tolkien blöd finden.)
Jedenfalls: Die Spd-fraktion und die zugehörige Partei nahmen den verlorenen Genossen gerne auf. Schließlich wurde jede Stimme für die gute (also die rot-rot-grüne) Sache gebraucht, und gegen den Faschismus sowieso.
Als der damalige, gar listige Cdulandesparteivorsteher eine Spdabgeordnete zum Wechsel in seine Fraktion lockte, wurde Helmerichs Mandat sogar entscheidend für die Regierungsmehrheit des einzigen linksgläubigen Ministerpräsidenten. Gesetze, Haushalte, Anträge: Alles hing am Votum des frisch Sozialdemokratisierten.
Schade nur, dass der Mann umso weniger geläutert wirkte, je näher das wahrscheinliche Ende seiner Mandatsende rückte. Er folgte dem verfemten Saruman (zuweilen auch Sarrazin genannt) und trat nach seinem Ausscheiden aus dem Landtag aus der SPD aus. Inzwischen kämpft er in der sogenannten Basis gegen eine angenommene Coronadiktatur.
Der Schock der linken Hobbits und grünen Elben über diese arglistige Täuschung fiel derart groß aus, dass sie auch ohne die Kräfte des Drachenvaters Glaurung (jaja, den habe ich gegoogelt) der kollektiven Amnesie anheimfielen.
Dass die Minderheitskoalition, der vier Stimmen zur Vollendung des Weltfriedens fehlen, sich ebendiese vier Stimmen von der Möchtegerngruppe aus den drei zuletzt aus der AFD ausgetretenen Abgeordneten und einer vormaligen Liberalen besorgen könnte: Allein die bloße Idee wird mit der größtmöglichen Empörung der Gerechten zurückgewiesen. Mit bösen Schwurbelorks, die bestimmt noch heimlich gen Bornhagen beten, wollen die wackeren Koalitionsgefährten aus Thüringen nichts, aber auch gar nichts zu tun haben.
Denn einen Ork, der zwei Jahre die linksgrüne Macht sicherte, den hat es ja nie gegeben. Niemals! (Und milde scheint die Abendsonne übers Auenland.)