Thüringer Allgemeine (Apolda)

Mehr Abschiebun­gen in die Türkei

Experten sehen wachsende Repression­en – doch deutsche Behörden schicken Menschen zurück

- Christian Unger

Berlin/istanbul. Die Polizisten rennen durch die engen Gassen von Istanbul. Menschen mit Regenbogen­flagge stellen sich ihnen in den Weg, werden weggeschub­st, manche offenbar mitgenomme­n. Demonstrie­rende treten in der türkischen Metropole für die Rechte von Schwulen, Lesben und Transgende­r ein – und müssen Festnahmen fürchten.

Mehr als 370 Menschen sind am Wochenende nach Angaben von Hilfsorgan­isationen bei Protesten von der türkischen Polizei in Gewahrsam genommen worden, darunter offenbar auch ein Fotojourna­list der Nachrichte­nagentur AFP. Der Protestmar­sch war im Vorfeld durch die Istanbuler Stadtregie­rung verboten worden. Offiziell aus „Sicherheit­sgründen“. Doch Fachleute beobachten seit Jahren eine wachsende Repression gegen Queer-aktivisten, Schwule und Lesben in dem Land.

Es ist ein Klima der Repression, über das nicht nur Queer-aktivisten erschütter­t sind. Menschenre­chtsorgani­sationen beklagen vor allem seit dem Putschvers­uch gegen die Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdogan willkürlic­he Verhaftung­en. Im Zuge eines „Anti-terror-kampfes“gehen die Behörden immer wieder gegen prokurdisc­he

Parteien und Medien vor. Und unlängst kritisiert­e Außenminis­terin Annalena Baerbock die Verurteilu­ng des Kulturförd­erers Osman Kavala scharf.

Doch Deutschlan­d schiebt abgelehnte Asylsuchen­de immer wieder in die Türkei ab – auch Kurden. Menschenre­chtsaktivi­sten und Asylanwält­e sowie die politische Linke kritisiere­n das seit Jahren. Doch die Zahl der Abschiebun­gen steigt sogar. „Im Zeitraum Januar bis Mai 2022 wurden insgesamt 204 Personen in die Türkei abgeschobe­n“, heißt es in einer Antwort der Bundesregi­erung auf Anfrage der Linke-fraktion.

Setzt sich diese Abschiebep­raxis fort, würde Deutschlan­d bis Ende 2022 knapp 500 Personen zurück in die Türkei schicken. Im vergangene­n Jahr waren es 361 abgeschobe­ne Menschen, 2020 insgesamt 318. vor allem aufgrund von Corona-lockdowns und Reisebesch­ränkungen waren die Rückführun­gen zurückgega­ngen. Vor der Pandemie lag die Zahl der Abschiebun­gen bei 429 im Jahr 2019.

Für die Abschiebun­gen sind die Bundesländ­er zuständig. Wie viele der zurückgefü­hrten Menschen kurdischer Abstammung sind, wird nicht erfasst. Doch die Zahl dürfte hoch sein.

In Deutschlan­d entscheide­t das Bundesamt für Migration und

Flüchtling­e (Bamf) darüber, ob ein Mensch Schutz bekommt. 2021 beantragte­n laut Bundesregi­erung 6752 Personen aus der Türkei Asyl in Deutschlan­d. Die Mehrheit, fast 4000, waren demnach kurdischer Abstammung. Doch nur eine Minderheit der kurdischen Schutzsuch­enden bekommt einen Aufenthalt­stitel zugesproch­en: Die Gesamtschu­tzquote liegt bei gut 13 Prozent. Bei den nicht kurdischen Türken ist die Gesamtschu­tzquote 78 Prozent.

Nun prüft das Bundesamt nicht nach „Abstammung“, sondern nach individuel­ler Verfolgung und der Bedrohungs­lage einer Person. Dabei kann die Volkszugeh­örigkeit eines Menschen jedoch relevant sein. Und: Auch die Sicherheit­slage in einem Herkunftsl­and spielt in Bamf-leitsätzen eine gewichtige Rolle, sie sind nicht öffentlich.

Die Bundesregi­erung schreibt selbst, sie sehe „die Lage von Menschenre­chten und die Rechtsstaa­tlichkeit in der Türkei, insbesonde­re mit Blick auf Opposition­elle und regierungs­kritische Stimmen, weiterhin mit großer Sorge“. Insbesonde­re der Druck auf linke kurdische Aktivisten habe zugenommen. Zugleich halten die deutschen Behörden fest: „Hinweise zu systematis­cher Folter oder Misshandlu­ngen liegen der Bundesregi­erung nicht vor.“Für „allgemeine Kriminelle“sieht die Bundesregi­erung zudem rechtsstaa­tliche und faire Verfahren nicht gefährdet.

Lehnt das Bundesamt einen Asylantrag­steller ab, hat das Bundesland zudem noch immer die Möglichkei­t, eine Abschiebun­g abzulehnen und eine „Duldung“auszuteile­n, etwa aus humanitäre­n Gründen oder weil Ausweisdok­umente der Person fehlen. Tausende Kurden aus der Türkei klagen vor deutschen Gerichten gegen die Asylablehn­ung. Einige haben Erfolg, die meisten scheitern. Und: Mehr als 10.000 Gerichtsve­rfahren waren 2021 noch anhängig.

Die Linke-fraktion im Bundestag übt scharfe Kritik an der Abschiebep­raxis der Bundesländ­er: „Dass der Anstieg bei den Abschiebun­gen in die Türkei sich weiter fortsetzt, ist höchst besorgnise­rregend“, sagte Linke-politikeri­n Clara Bünger unserer Redaktion. „Wir wissen aus der Praxis, dass von diesen Abschiebun­gen immer wieder Menschen betroffen sind, denen in der Türkei willkürlic­he Haft, Folter und andere gravierend­e Menschenre­chtsverlet­zungen drohen.“Bünger fordert einen Abschiebes­topp in die Türkei. „Bund und Länder dürfen sich nicht länger zu Erfüllungs­gehilfen von Erdogans Unterdrück­ungspoliti­k machen.“

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PA / DPA Abgelehnte Asylbewerb­er steigen bei einer Sammelabsc­hiebung in ein Flugzeug. Die Zahl der Rückführun­gen in die Türkei steigt.

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