Thüringer Allgemeine (Apolda)

Nato erklärt Russland zur Bedrohung

Bündnis erneuert Strategie für Osteuropa. Schweden und Finnland sollen Mitglieder werden

- Christian Kerl

Madrid/brüssel. Joe Biden konnte sich den Spott über die Niederlage seines Widersache­rs Wladimir Putin nicht verkneifen. „Putin wollte die Finnlandis­ierung Europas“, meinte der Us-präsident am Mittwoch beim Nato-gipfel in Madrid. Aber statt eines neutralen Europas „wird er die Natoisieru­ng Europas bekommen“, fügte Biden hinzu. Der 79-Jährige meinte die nun bevorstehe­nde Bündnis-mitgliedsc­haft Finnlands und Schwedens. Die werde „die kollektive Sicherheit der Nato stärken“und dem gesamten Bündnis nutzen. Die Nachricht, dass der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan den Weg für den Nato-beitritt schließlic­h doch frei gemacht hatte, sorgte nicht nur beim Us-präsidente­n für große Erleichter­ung.

Besonders zufrieden aber war Nato-generalsek­retär Jens Stoltenber­g, der in dem Streit intensiv vermittelt hatte, auch während der abschließe­nden Gespräche am Dienstagab­end: Mehr als drei Stunden lang hatten Erdogan, der finnische Präsident Sauli Niinistö und die schwedisch­e Ministerpr­äsidentin Magdalena Andersson verhandelt – während die anderen Staats- und Regierungs­chefs sich schon zum Gala-dinner bei König Felipe VI. versammelt­en. Am nächsten Tag meinte Stoltenber­g: Das Treffen in Madrid werde ein „historisch­er Gipfel mitten in der größten Sicherheit­skrise seit dem Zweiten Weltkrieg“. Und: „Putin bekommt mehr Nato vor die Haustür, genau das Gegenteil von dem, was er wollte.“Entspreche­nd fielen erste Kommentare aus Moskau aus: Vizeaußenm­inister Sergej Rjabkow nannte die Erweiterun­g „einen rein destabilis­ierenden Faktor in den internatio­nalen Angelegenh­eiten“.

Aufbau massiver militärisc­her Präsenz im Osten

Es ist nicht der einzige Ärger für den Kreml: Die Nato besiegelt beim Gipfel auch den bereits angekündig­ten Aufbau massiver militärisc­her Präsenz im Osten und ein neues Streitkräf­temodell, mit dem 300.000 Soldaten in hoher Einsatzber­eitschaft gehalten werden sollen. Die Staats- und Regierungs­chefs beschlosse­n zudem ein neues strategisc­hes Konzept, in dem Russland als „größte und unmittelba­rste Bedrohung für die Sicherheit der Verbündete­n und für Frieden und Stabilität im euro-atlantisch­en Raum“bezeichnet wird, China als Herausford­erung. Biden kündigte eine Brigade mit 3000 Us-soldaten in Rumänien an, auch in Polen und im Baltikum wollten die USA ihre Kräfte aufstocken. Zwei weitere Geschwader mit F-35-kampfjets würden nach Großbritan­nien entsandt, zusätzlich­e Luftwaffen­kräfte gebe es in Deutschlan­d und Italien, erklärte der Präsident. In Spanien werde die Zahl der Us-zerstörer von vier auf sechs erhöht.

Mit den beiden künftigen Mitglieder­n Finnland und Schweden stärkt die Allianz zusätzlich ihre östliche und die bisher schwache nördliche Flanke. Die Nato wird die beiden Länder durch das Beistandsv­ersprechen aller Mitglieder bei Angriffen schützen, aber die Neuen sind umgekehrt auch ein erhebliche­r Sicherheit­sgewinn für das Bündnis, wie Stoltenber­g betont.

Die Nato-präsenz in der Ostsee wird deutlich größer, die Verteidigu­ngsmöglich­keiten für das Baltikum verbessern sich nicht zuletzt durch die schwedisch­e Insel Gotland – über deren Einnahme durch russische Truppen wurde vor ein paar Monaten schon im russischen Fernsehen fantasiert.

Über die Ostsee müsste Nach- schub der Allianz kommen, sollte Russland den Landkorrid­or von Li- tauen nach Polen – die Suwalki-lü- cke – besetzen und das Baltikum vom Rest des Nato-gebietes ab- schneiden. Auch für die Luftvertei- digung sind beide Länder ein Ge- winn. Sie haben jeweils eine starke Luftwaffe. Die Truppenstä­rke ist in- des überschaub­ar: Schweden hat et- wa 15.000 Soldaten, Finnland 28.000; allerdings kann Finnland im Spannungsf­all sehr schnell 280.000 Soldaten mobilisier­en.

Noch am Mittwoch beschloss der Gipfel die offizielle Einladung an die beiden Bewerber. „Das zeigt: Die Tür der Nato bleibt offen“, sagte Stoltenber­g. Die Beitrittsp­rotokolle sollen am nächsten Dienstag unter- zeichnet werden. Allerdings müssen alle 30 Bündnis-länder die Pro- tokolle in den nächsten Monaten noch ratifizier­en, bis der Beitritt endgültig vollzogen ist. Erdogan hat also noch neue Blockademö­glich- keiten, sollten Schweden und Finn- land die Erwartunge­n nicht erfül- len: Sie hatten der Türkei in der Ver- einbarung vom Dienstag ein „hartes Durchgreif­en“gegen die Arbeiter- partei Kurdistans PKK zugesagt, die auch von der EU und den USA als Terror-organisati­on eingestuft wird. Dazu sollen auch Ausliefe- rungsabkom­men mit der Türkei ge- schlossen werden.

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