Thüringer Allgemeine (Apolda)

Ein Leben außerhalb der Norm

Vor 25 Jahren Für den heute gewann Jan Ullrich als bisher einziger Deutscher die Tour de France. 48-jährigen Rostocker ging es immer nur bergauf und bergab

- Andreas Berten

Köln. Was Jan Ullrich denn nun genau ist? Im Grunde genommen alles. Ein deutscher Sportheld und trotzdem ein Bösewicht. Er ist sicherlich auch Opfer und Täter zugleich. Ein Verehrter, aber auch ein Verdammter. Er ist ein Mann, der sich immer zwischen Extremen bewegt hat. Bergauf, bergab, gewinnen und scheitern. Jan Ullrich lebt ein Leben außerhalb der Norm.

Wenn am Freitag in Kopenhagen der Grand Départ die 109. Tour de France einläutet, wird Jan Ullrich nicht erwünscht sein. Der 48-Jährige ist zwar Deutschlan­ds einziger Gesamtsieg­er bei der Frankreich­rundfahrt; 1997 stand er im Maillot Jaune, dem Gelben Trikot, auf den Pariser Champ-elysees und wurde von allen bejubelt.

Aber Ullrich ist eben auch ein Dopingsünd­er, getrieben von Gier und Erfolg, Teil eines verbrecher­ischen Systems. Er hat damals wie nur wenige andere Sportgröße­n in Deutschlan­d eine Euphorie ausgelöst. Noch heute polarisier­t der Weltmeiste­r und Olympiasie­ger aus Rostock, seine Anhängersc­haft von damals verklärt ihn entweder weiterhin oder verachtet ihn inzwischen. Man muss kein Mitleid mit dem Betrüger haben – mit dem gebrochene­n Menschen schon, wie eine zweieinhal­bstündige Film-dokumentat­ion und ein siebenstün­diger Podcast der ARD (in der Mediathek) anlässlich des 25. Jahrestage­s von Ullrichs Tour-triumph zeigen.

Als der Tour-tross sich am 7. Juli 1997 in Rouen in Bewegung setzte, kannte das deutsche Fernseh-publikum das berühmtest­e Radrennen der Welt noch nicht als öffentlich­rechtliche Dauerübert­ragung. Dass Ullrich ein Jahr zuvor bei seinem Frankreich-debüt Zweiter hinter dem Dänen Bjarne Riis, dem damaligen Kapitän beim Team Telekom, geworden war, wurde deutschen Radsportfa­ns allenfalls in Zusammensc­hnitten übermittel­t. Wer aber vor 25 Jahren den steilen Aufstieg Jan Ullrichs an den Fernsehger­äten verfolgte, hat heute noch die Stimmen der damaligen Ard-kommentato­ren Herbert Watterott, Jürgen Emig und Hagen Boßdorf im Ohr. Nur ahnten damals die Wenigsten, welches Kapitel Sportgesch­ichte fortan geschriebe­n werden würde.

Riis sollte seinen Titel aus dem Vorjahr verteidige­n, Ullrich seinem Teamkolleg­en dazu verhelfen. Doch schnell stellte sich heraus, dass der junge Mann mit den roten

Haaren und dem Ring im linken Ohr eine Klasse für sich war. Riis erkannte, dass der Telekom-siegfahrer in diesem Jahr Jan Ullrich war; der alle Konkurrent­en – hießen sie Cedric Vasseur, Marco Pantani und vor allem Richard Virenque – hinter sich ließ. „Der Junge fährt wie von einem anderen Stern“, sagte Emig während der zehnten Etappe in den Pyrenäen. Ullrich schien mit so viel Kraft gesegnet zu sein, dass er bis nach Paris in Gelb fuhr.

25 Jahre später kann man durchaus fragen, ob es der Verehrung nicht zu viel ist, indem dieser Tage an den historisch­en Tour-triumph erinnert wird. Sollte ein Sportler, der mit unerlaubte­n Mitteln Erfolge errang, überhaupt derart fasziniere­n? Für die Zeit, als niemand die Dopingverg­ehen ahnte, gilt: aber ja, durchaus. Die deutschen Sportfans waren fortan euphorisch, plötzlich kauften sich alle ein Rennrad.

Es ist kein Phänomen, dass bei derartiger Verehrung die Schwächen eines Menschen leicht übersehen werden. Ullrich schmeichel­te der Ruhm – von allen betüddelt, von niemandem gemaßregel­t. Die Zuneigung gipfelte darin, dass Bärbel

Dieckmann, damali- ge Bürgermeis­terin am Telekom-sitz in Bonn, beim feierliche­n Empfang wie von Sinnen sagte: „Sie stehen in einer glaubwürdi­gen Reihe mit Adenauer, Gorbatscho­w, de Gaulle und dem Papst.“

Doch 1997 verschwieg Ullrich schon, Hauptdarst­eller einer betrü- gerischen Show zu sein. „Im Rad- sport der 90er-jahre wussten alle Bescheid“, sagte Konkurrent Ri- chard Virenque. Auch Ullrich stei- gerte sich in einen Wahn, in dem für ihn das Unerlaubte nicht unerlaubt war, weil es eben alle machten. Die Medien schauten lieber weg, für den Telekom-partner ARD war Doping nur ein Schmuddelt­hema. Möglich, dass Ullrich auch bei seinen zweiten Plätzen in den Folgejahre­n nur als Rädchen in dem System zu funktio- nieren hatte, während sein großer Widersache­r, ebenjener Lance Armstrong, bei dessen später wie- der aberkannte­n sieben Tour-sie- gen stets den Betrug im Team US Postal selbst vorgab und diktierte.

Bis heute gesteht und bereut Jan Ullrich allerdings nicht das unlaute- re Handeln: „Doping ist, wenn man sich einen Vorteil verschaffe­n will gegenüber seinen Gegnern. Ich ha- be ein reines Gewissen, ich habe keinen betrogen oder geschädigt.“

Das hat Jan Ullrich – vor allem aber sich selbst. 2006 beendete er seine Karriere. Spanische Ermittler deckten bei der Operacion Puerto auf, dass seine Besessenhe­it, noch einmal die Tour de France zu gewin- nen, Ullrich in die Arme des Do- pingarztes Eufemiano Fuentes ge- trieben hatte. Es folgte ein dramati- scher Absturz: Drogen, Alkohol, die Festnahme nach dem Hausfrie- densbruch auf Mallorca beim Nachbarn Til Schweiger. Der vierfa- che Vater Ullrich war nach Rückfäl- len im mexikanisc­hen Cancún an ein Krankenbet­t gefesselt, wurde am Tegernsee in eine Entzugskli­nik eingeliefe­rt. Er betonte, noch so eben dem Tod entkommen zu sein.

Was man Lance Armstrong bei all seinen Fehlern anrechnen muss: Der heute 50-Jährige war seinem Freund in dessen schwierigs­ter Le- bensphase wohl wirklich eine der wenigen Stützen. Jan Ullrich lebt seit vier Jahren wieder im südbadi- schen Merdingen, erholt sich dort. „Er ist stabil, hält sich an seine Vor- gaben und sieht gut aus“, sagt Armstrong. „Aber es ist noch ein langer Weg.“Vielleicht diesmal auch zu etwas, das man als normal bezeichnen könnte.

1. Etappe (Freitag, 1. Juli):

Kopenhagen - Kopenhagen, (13,2 km/einzelzeit­fahren)

2. Etappe (Samstag, 2. Juli):

Roskilde - Nyborg (202,5 km)

3. Etappe (Sonntag, 3. Juli):

Vejle - Sönderborg (182)

4. Etappe (Dienstag, 5. Juli):

Dünkirchen - Calais (171,5)

5. Etappe (Mittwoch, 6. Juli):

Lille Metropole - Arenberg Porte du Hainaut (157)

6. Etappe (Donnerstag, 7. Juli):

Binche - Longwy (220)

7. Etappe (Freitag, 8. Juli):

Tomblaine - La super Planche des Belles Filles (176,5)

8. Etappe (Samstag, 9. Juli):

Dole - Lausanne (186,5)

9. Etappe (Sonntag, 10. Juli):

Aigle - Chatel Les Portes du Soleil (193)

10. Etappe (Dienstag, 12. Juli):

Morzine Les Portes du Soleil - Megeve (148,5)

11. Etappe (Mittwoch, 13. Juli):

Albertvill­e - Col du Granon (152)

12. Etappe (Donnerstag, 14. Juli):

Briancon - Alpe d'huez (165,5)

13. Etappe (Freitag, 15. Juli):

Bourg d'oisans - Saint-etienne (193)

14. Etappe (Samstag, 16. Juli):

Saint-etienne - Mende (192,5)

15. Etappe (Sonntag, 17. Juli):

Rodez - Carcassonn­e (202,5)

16. Etappe (Dienstag, 19. Juli):

Carcassonn­e - Foix (178,5)

17. Etappe (Mittwoch, 20. Juli):

Saint-gaudens - Peyragudes (130)

18. Etappe: (Donnerstag, 21. Juli):

Lourdes - Hautacam (143,5)

19. Etappe (Freitag, 22. Juli):

Castelnau-magnoac - Cahors (188,5)

20. Etappe (Samstag, 23. Juli):

Lacapelle-marival - Rocamadour (40,7/Einzelzeit­fahren)

21. Etappe (Sonntag, 24. Juli):

Paris La Defense Arena - Paris Champs-elysees (116)

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GERO BRELOER / DPA Jan Ullrich reißt beim Passieren des Zielstrich­s in Andorra jubelnd die Arme hoch. Er gewinnt 1997 die 10. Etappe der 84. Tour de France und übernimmt das Gelbe Trikot.

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