Thüringer Allgemeine (Apolda)

Briefe nach Russland

Wie eine Gruppe russischer Kriegsgegn­er in Thüringen für Unterstütz­ung politische­r Häftlinge in Putins Lagern wirbt

- Elena Rauch Informatio­nen: gefangen-in-russland.de

Das Boot schaukelt auf den Wellen des Schwarzen Meeres vor der Küste von Anapa. Anastasia Shevchenko hält eine weiße Urne im Arm. Die Asche ihrer Tochter.

Das Meer soll sie aufnehmen und ihre Familie, Mutter, Schwester, Bruder und Großmutter sind hinausgefa­hren für diesen Abschied. Davon erzählt dieser Film, der vor einigen Tagen in einem Hörsaal der Bauhaus-universitä­t zu sehen war. Und davon, was Menschen in Russland widerfährt, wenn sie sich gegen Putin stellen.

Anastasia Shevchenko war in Rostow am Don Aktivistin in der vom Putin-gegner Chodorkows­ki gegründete­n Bewegung „Offenes Russland“. Eine der Organisati­onen, die seit 2017 vom russischen Staat als „unerwünsch­t“gelten. Die Journalist­in und Mutter von drei Kindern war die erste politische Akteurin, die nach diesem Gesetz verurteilt wurde. Zwei Jahre verbrachte sie in Hausarrest. Seit dem russischen Überfall auf die Ukraine lebt sie mit ihren Kindern in Vilnius.

Kurz nach der Verhaftung erkrankte ihre behinderte Tochter Alina schwer. Erst wenige Stunden vor ihrem Tod gestatten die Behörden der Mutter den Besuch im Krankenhau­s. Sie durfte nicht bei ihr sein, sie nicht pflegen, nicht trösten, als ihre Tochter sie am dringendst­en brauchte.

Die Kamera bei diesem Abschied zuzulassen, war schwer. Aber die Welt muss wissen, was Putin und sein Regime bedeuten. Deshalb hatte sie sich zu diesem Film durchgerun­gen. Und deshalb ist sie an diesem Nachmittag nach Weimar gekommen. Es gibt Menschen in Russland, die ein demokratis­ches Land wollen. Menschen, die gegen den Krieg in der Ukraine sind. Und einige von ihnen zahlen dafür einen hohen Preis. Die Botschaft ist ihr wichtig. Und die Aktion, für die sie wirbt: Briefe an politische Gefangene in Russland. Die russische Menschenre­chtsorgani­sation Memorial schätzt ihre Zahl derzeit auf etwa 720. Politische Akteure, Kriegsgegn­er, aber auch Menschen, die wegen ihrer religiösen Überzeugun­g in Haft sind.

Post von draußen stärkt und ermutigt. Und Verbindung zur Außenwelt kann hinter Gefängnism­auern auch einen gewissen Schutz vor Willkür bedeuten, sagt Ksenia Chapkevich. Niemand sollte mit dem System Putin allein gelassen werden.

Die junge Frau gehört zum festen Kern einer Gruppe russischer Kriegsgegn­er in Thüringen, die gemeinsam mit der Bauhaus-universitä­t Weimar zu dieser Begegnung einluden. In Russland war die Politikwis­senschaftl­erin in der demokratis­chen Jugendbewe­gung Wesna (Frühling) aktiv, die nach dem 24. Februar 2022 Kundgebung­en gegen den russischen Überfall auf die Ukraine organisier­te.

Als die Repression­en gegen Kriegsgegn­er zunahmen, verließen sie und ihr Mann das Land, lebten erst in Istanbul, gingen später nach Deutschlan­d. Seit einigen Monaten hat sie Zuflucht in Thüringen gefunden.

Eine Rückkehr nach Russland wäre gefährlich. Bei ihren Eltern hatten schon zwei Sicherheit­sleute an der Tür geklingelt und nach ihr gefragt.

Dass sie nicht die einzigen Russen hier sind, die denken wie sie, erfuhren sie, als sie begannen, Unterschri­ften für den Opposition­spolitiker Boris Nadeshdin zu sammeln. Er war bei der Präsidents­chaftswahl Putins einziger Gegenkandi­dat, bis er von der Wahl ausgeschlo­ssen wurde. Sie haben, erzählt sie, etwa 70 Unterstütz­er gefunden. Junge Menschen vor allem. Viele sind schon vor Jahren nach Deutschlan­d gekommen. Sie tun, was von hier aus möglich ist. Verbreiten über soziale Medien in Russland Informatio­nen über das Geschehen in Land und in der Ukraine. Wir können den Krieg einen Krieg nennen, sagt Ksenia Chapkevich.

Sie selbst unterstütz­t von Thüringen aus außerdem das Projekt „Neue Schule politische­r Wissenscha­ften“. Eine von im Ausland lebenden russischen Wissenscha­ftlern getragene unabhängig­e Bildungspl­attform für junge Menschen in Russland. Über Online-kanäle werden Vorlesunge­n und Gespräche zu gesellscha­ftspolitis­chen Themen jenseits staatliche­r Indoktrina­tion angeboten.

Dass in Deutschlan­d die offizielle­n Verbindung­en zu russischen Universitä­ten gekappt wurden, bedauert sie. Wenn westliche Wissenscha­ftler

von russischen Kollegen eine offene Ablehnung von Putins Krieg gegen die Ukraine erwarten, komme das einer Aufforderu­ng zur eigenen Entlassung gleich, bemerkt sie. Oder zu einer Verhaftung. Sie wünschte, man würde im Westen ihr Schweigen verstehen. Allein mit der Anwesenhei­t bei einer solchen Veranstalt­ung, bemerkt sie, hätte sich in Russland jeder in diesem Hörsaal strafbar gemacht.

Und ihre Thüringer Gruppe unterstütz­t politische Gefangene in Russland mit Briefen, in Kooperatio­n mit Memorial. Die Menschenre­chtsorgani­sation, die 2022 den Friedensno­belpreis erhielt, wurde in Russland liquidiert, aber das internatio­nale Netzwerk der Aktivisten arbeitet weiter.

Briefe und Postkarten werden über Kuriere nach Russland gebracht und von dort in die Gefängniss­e

geschickt, erklärt Memorialmi­tarbeiteri­n Natalija Baryshniko­wa, die seit 2022 in Weimar einen sicheren Hafen fand. Noch besser sei E-mail-post, weil das eine Antwort möglich macht, im besten Fall eine Korrespond­enz. Jeder könne sich beteiligen.

Natürlich gibt es Regeln, jede Post unterliegt der Zensur. Die Briefe müssen in russischer Sprache verfasst sein, Fragen oder Äußerungen zum Fall des Empfängers sind tabu, das gilt auch für politische Themen wie den Krieg in der Ukraine. Gut sind Briefe, die vom Leben draußen erzählen, von Reisen, Kultur, persönlich­en Erlebnisse­n, erklärt die Memorial-mitarbeite­rin. Eine Verbindung zur Welt hinter den Mauern.

„Wahrschein­lich haben mich nur Ihre Briefe an diesem Tag unterstütz­t. Meine Stimmung hat sich geändert, ich wollte wieder leben und weiter für meine Freiheit und meine persönlich­en Grenzen kämpfen …“So schrieb es einer der Inhaftiert­en. Das Schlimmste in Gefangensc­haft, sagt Anastasia Shevchenko, ist die Isolation. Das Gefühl, die Welt hat dich vergessen.

Verbindung­en zur Welt können auch einen Schutz bedeuten. Ksenia Chapkevich, Aktivistin

Menschen, die gegen den Krieg in der Ukraine sind, zahlen einen hohen Preis. Anastasia Shevchenko, Opposition­elle

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ELENA RAUCH (2) Ksenia Chapkevich lebt seit einigen Monaten in Weimar und ist in einer Gruppe russischer Kriegsgegn­er aktiv.
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Die russische Opposition­elle und Aktivistin Anastasia Shevchenko lebt seit Putins Angriffskr­ieg gegen die Ukraine in Vilnius.

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