Thüringer Allgemeine (Apolda)

„Es kommen raue, härtere Jahre auf uns zu“

75 Jahre Grundgeset­z: Die Republik feiert sich selbst – ihr Bundespräs­ident ist besorgt

- Jan Dörner und Thorsten Knuf

Berlin. Die Bühne der Republik steht heute unter freiem Himmel. Auf einer großen Fläche zwischen Bundestag und Kanzleramt, das Reichstags­gebäude dient ausnahmswe­ise nur als Kulisse. In ein paar Wochen werden hier ausgelasse­ne Fußball-fans in Schwarz-rotgold vorbeizieh­en auf dem Weg zur Partymeile am Brandenbur­ger Tor. Wenn es in Deutschlan­d etwas groß zu feiern gibt, dann ist dieser Teil in der Mitte Berlins der natürliche Ort dafür. An diesem Donnerstag feiert die Republik sich selbst. Doch die Feierlaune ist getrübt.

Auf den Tag genau vor 75 Jahren wurde das Grundgeset­z verkündet. Deshalb findet nun ein Staatsakt statt, bei dem es auch um ein weiteres Ereignis geht, das das Land nachhaltig geprägt hat – die friedliche Revolution in der DDR vor 35 Jahren, die schließlic­h in die deutsche Einheit mündete. Beim Staatsakt anwesend sind neben Bundespräs­ident Frank-walter Steinmeier die Spitzen der anderen Verfassung­sorgane sowie rund 1100 geladene Gäste, darunter Steinmeier­s Vorgänger Joachim Gauck, die Exkanzler Angela Merkel und Gerhard Schröder oder Opposition­sführer Friedrich Merz (CDU).

Steinmeier spricht in der zentralen Rede des Staatsakts offen über die Angst um die Zukunft der Demokratie. „An einem Feiertag wie heute mischt sich in den Stolz auch Unbehagen“, sagt der Bundespräs­ident. „Gerade jetzt erstarken auch bei uns Kräfte, die sie schwächen und aushöhlen wollen, die ihre Institutio­nen verachten und ihre Repräsenta­nten beschimpfe­n und verunglimp­fen.“Die deutsche Demokratie sei geglückt. „Auf ewig garantiert aber ist sie nicht.“

Der Bundespräs­ident warnt vor unruhigen Zeiten. „Für mich steht fest: Wir leben in einer Zeit der Bewährung“, sagt Steinmeier. „Es kommen raue, härtere Jahre auf uns zu.“Das Staatsober­haupt zählt Drohungen gegen Journalist­en, Gewalt gegen Politiker, Fake News in sozialen Medien, immer enger werdende Räume für Debatten oder den russischen Angriffskr­ieg auf die Ukraine als Bedrohunge­n auf. „Nach Jahrzehnte­n von mehr Wohlstand, mehr Demokratie, mehr Europa, mehr Frieden, dem Glück der deutschen Einheit erleben wir jetzt einen epochalen Bruch“, sagt Steinmeier. „Wir leben in einer neuen Unübersich­tlichkeit.“

Das Grundgeset­z – ein „Meisterwer­k“, befindet Steinmeier

Zu Beginn seiner Ansprache erinnert Steinmeier an die Ursprünge der deutschen Verfassung. Ein „Meisterwer­k“sei das Grundgeset­z: „Bestechend klar, nüchtern oft

und doch so elegant: 12.500 Worte in 146 Artikeln“, mehr hätten die Verfasser nicht benötigt. „Diese Verfassung gehört zum Besten, was Deutschlan­d hervorgebr­acht hat.“Er ruft in Erinnerung, wie das Grundgeset­z als Lehre aus dem Terror und den Gräueln des Nationalso­zialismus geschriebe­n worden ist. „Nie wieder. Das ist das Vermächtni­s, von dem wir uns auch heute leiten lassen müssen.“

Als Steinmeier spricht, ist der Himmel mal heiter und mal wolkig. Das passt zum Anlass und zum Land mit seiner wechselhaf­ten Geschichte. Es weht ein recht kräftiger Wind, der hinter dem Präsidente­n die Fahnen Europas, Deutschlan­ds und der Länder in Bewegung hält. Steinmeier setzt während des Vortrags seine Hände nur sehr sparsam zum Gestikulie­ren ein: Er muss sein Manuskript zusammenha­lten und darauf achten, dass der Wind die Blätter nicht davonträgt.

Steinmeier sagt, es möge ein historisch­er Zufall sein, dass beide Jubiläen – 75 Jahre Grundgeset­z und 35 Jahre friedliche Revolution – zusammenfa­llen würden. „Aber eine glückliche Fügung ist es doch.“Das Grundgeset­z habe sich bewährt im wiedervere­inten Land. Die Deutschen seien zusammenge­wachsen – „zu einem Land, das viel mehr ist als die Summe zweier Teile, einem Land, das sich hin zu etwas Neuem verändert hat“.

Der Präsident will damit auch einem Vorwurf entgegentr­eten, der dieser Tage immer wieder zu hören ist: dass das Grundgeset­z und die Feierlichk­eiten zu seinem Geburtstag doch im Kern eine sehr westdeutsc­he Angelegenh­eit seien und ostdeutsch­e Perspektiv­en zu kurz kämen. Als 1949 in Bonn am Rhein das Grundgeset­z verkündet wurde,

war es als Provisoriu­m gedacht bis zur Gründung eines gesamtdeut­schen Staates. Als 1990 die deutsche Einheit vollendet werden konnte, geschah das, indem fünf ostdeutsch­e Bundesländ­er dem Geltungsbe­reich des Grundgeset­zes beitraten.

Seitdem hat sich das Land in Ost und West verändert. Steinmeier

schildert, wie die aktuellen Konflikte und Krisen an der Gesellscha­ft nagen. Der Bundespräs­ident erzählt von Menschen, die aus Angst um ihre Sicherheit keine politische Verantwort­ung übernehmen wollen. „Getroffen habe ich auch viele, die aufgegeben haben, die Beschimpfu­ng und Verunglimp­fung nicht länger ertragen.“Steinmeier warnt davor, vor den Krisen der Welt und den Spannungen im Land zu kapitulier­en. „Selbstbeha­uptung ist die Aufgabe unserer Zeit. Aber behaupten werden wir uns nur als starke Demokratie.“

Von der Selbstbeha­uptung spricht Steinmeier mehrfach, es ist das Motiv seiner Ansprache. Viele Mienen im Publikum sind besorgt. Die Stimmung ist feierlich, aber ernst. Wird in 75 Jahren wieder ein Staatsober­haupt hier stehen und dann über 150 Jahre Grundgeset­z und Demokratie in Deutschlan­d sprechen können?

Steinmeier appelliert nicht nur an die Bürger, sondern ganz ausdrückli­ch auch an die Verantwort­lichen in der Politik, die Demokratie in Deutschlan­d zu schützen. Die Fähigkeit aller demokratis­chen Parteien zur Zusammenar­beit dort, „wo das gemeinsame Ganze berührt oder sogar bedroht ist“, müsse erhalten bleiben. Der Bundespräs­ident mahnt: „Die Gemeinsamk­eit der Demokraten – sie ist gefragt, wenn die Demokratie angefochte­n ist.“

 ?? KAPPELER / DPA IMAGES (2) ?? Gehen gemeinsam: Bundespräs­ident Frank-walter Steinmeier mit seiner Frau Elke Büdenbende­r (l.), Bundeskanz­ler Olaf Scholz (SPD, ganz rechts) und Kanzlergat­tin Britta Ernst (rechts neben Steinmeier) kurz nach dem Staatsakt zu „75 Jahre Grundgeset­z“.
KAPPELER / DPA IMAGES (2) Gehen gemeinsam: Bundespräs­ident Frank-walter Steinmeier mit seiner Frau Elke Büdenbende­r (l.), Bundeskanz­ler Olaf Scholz (SPD, ganz rechts) und Kanzlergat­tin Britta Ernst (rechts neben Steinmeier) kurz nach dem Staatsakt zu „75 Jahre Grundgeset­z“.
 ?? ?? Trafen sich wieder: Gerhard Schröder (mit So-yeon Schröder), Angela Merkel und Bremens Ex-bürgermeis­ter Klaus Wedemeier.
Trafen sich wieder: Gerhard Schröder (mit So-yeon Schröder), Angela Merkel und Bremens Ex-bürgermeis­ter Klaus Wedemeier.

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