Thüringer Allgemeine (Arnstadt)
Kanone und Kurbelwelle
Bei diesem alten russischen Volkssport sind Präzision, Kraft und ein bisschen Fantasie gefragt
Jena.
Leider gehörte ich zu den Schülern, die sich damals in der Mittelstufe nicht für Russisch als zweite Fremdsprache entschieden hatten. Eigentlich schade, denn für Gorodki wäre es zumindest interessant, ein paar Brocken zu können. Aber Artur Keck, mein Probetrainer, fungiert gleichzeitig als Übersetzer für russische Fachbegriffe.
Artur Keck ist Anfang siebzig, Deutschrusse und lebt seit 2003 in Jena. Er leitet die Abteilung Gorodki der Wohnsportgemeinschaft (WSG) Lobeda; es ist die einzige dieser Art in ganz Thüringen. Im Sportpark in LobedaWest haben die aktuell neun aktiven Spieler eine eigene Gorodki-Bahn ganz für sich. Bei Gorodki handelt es sich um ein traditionelles Wurfspiel aus dem russischen Raum, das heute auch in anderen slawischen Ländern, dem Baltikum und – leicht abgewandelt – auch in Skandinavien beliebt ist. Es geht darum, aus unterschiedlicher Entfernung mit einem etwa einen Meter langen, dünnen Stock (das „bit“) Figuren aus einem Spielfeld herauszuschießen, die aus jeweils fünf Holzstöckchen aufgebaut werden.
Diese Holzstücke sind zwanzig Zentimeter lang, fünf dick und heißen Gorodki – ein „Städtchen“auf Russisch. Das zwei Mal zwei Meter große, quadratische Spielfeld, auf dem die Figur steht, heißt Gorod, „Stadt“. Die Gorodki können zu 16 unterschiedlich großen und damit unterschiedlich schwierigen Figuren kombiniert werden, die Namen wie Brunnen, Gabel oder Kurbelwelle tragen. Oder martialischer, Kanone, Artillerie oder Maschinengewehrnest.
Und tatsächlich erkenne ich schnell die jeweiligen Figuren hinter den Namen. Mal ein bildlicher Sport, das gefällt mir! Selbst eine Sichel gibt es – ein russischer Sport eben. Die Spieler bauen sich die Figuren selbst auf, was auch für einen Laien wie mich kein Problem darstellt.
„Gorodki ist eine Sportart für Menschen jeden Alters, die in erster Linie Spaß machen soll“, erklärt mir Keck. Es gibt zwar auch Weltmeisterschaften, aber im Verein stehe die Kurzweil im Vordergrund. In Russland ist Gorodki ein Freizeitvergnügen des Volkes, es gibt viele öffentli- che Anlagen, und wenn keine da ist, wird eben improvisiert: Ein Sport der Straße.
So ist auch Keck zum Gorodki gekommen, als er als Junge in seinem Heimatdorf im Nordural die Erwachsenen mit selbst gebauten Gorodkis spielen sah und eines Tages selbst mitmachte. Tatsächlich ist das Reglement relativ einfach. Es gibt aber trotzdem einen Kampfrichter, der zum Beispiel darüber wacht, ob der Stock im Feld oder im Aus aufkommt. Er muss auch jeden Wurf erst durch Pfeifen freigeben. Bei Zuwiderhandlungen gibt es Strafpunkte. „Die Wurftechnik selbst ist allerdings nicht vorgeschrieben“, so Keck. Wohl aber wichtig und entscheidend: „Man muss mit dem ganzen Körper werfen, nicht nur aus dem Arm heraus“, sagt er. „Und ganz wichtig ist, sich vorher aufzuwärmen, damit Arm und Schulter nicht irgendwann beleidigt sind“.
Das leuchtet mir ein, mein erster Wurf muss jetzt aber mal ohne Erwärmung gehen. Intuitiv hole ich Schwung, wie von meinem Trainer geraten mit dem ganzen Arm und eingedrehtem Oberkörper, und werfe den knapp zwei Kilo schweren Kunststoffstock nach vorn – und treffe sogar meine selbst gewählte Figur, den Brunnen. Ein Gorodki habe ich aus dem Spielfeld schießen können, die anderen verteilen sich kullernd auf der Metallplatte (was nicht zählt). Sinn und Zweck ist natürlich, möglichst wenige Versuche zu benötigen, bis alle Stöckchen weggeschossen sind.
Pro Zug hat jeder Spieler zwei Würfe, dann ist der Gegenspieler auf der Nachbarbahn an der Reihe. Für jeden weggeschlagenen Gorodki gibt es einen Punkt. Allerdings habe ich den Grünschnabelbonus: Denn Da-
Gorodki seit 15 Jahren auch in Deutschland
men, Kinder und Anfänger dürfen aus 6,50 Metern Distanz werfen, Männer und Fortgeschrittenen müssen zumindest beim ersten Wurf aus der doppelten Entfernung ran. Das stellt sich dann doch als Hürde heraus, mein Bit landet deutlich neben dem Spielfeld. „Aber fürs erste Mal ganz ordentlich“, lobt mich Keck. „Überhaupt kann eigentlich jeder Gorodki spielen. Auch Kinder und Leute, die insgesamt eher nicht so sportlich sind“, sagt er weiter.
„Aber das Schönste ist: Beim Gorodki kommen wirklich alle zusammen und es macht Spaß“. Meine vier Würfe reichen mir aus, um ihm vollumfänglich zustimmen zu können: Man kommt schnell herein, verausgabt sich nicht zu sehr und bewegt sich trotzdem im Freien.
Vor allem ist es ein Sport, der entspannend ist und in Ermangelung einer Bahn oder richtiger Bitas und Gorodki mit ein wenig Erfindergeist auch im eigenen Garten gespielt werden könnte.