Thüringer Allgemeine (Arnstadt)
Eine vergebene Chance
Weil diese Kolumne doch ab heute immer am Samstag erscheint und weil am Samstag bis Sonnenuntergang Schabbes ist und weil ich nun einmal so heiße wie ich nun einmal heiße, da fällt mir doch dieser Scherz ein, den ich am Mittwoch gehört habe: „Sie wissen bestimmt, dass die Juden an allem Unglück dieser Welt schuld sind – sogar am Untergang der Titanic. Der Untergang der Titanic? Das war doch ein Eisberg! Eisberg, Goldberg, Rosenberg, ist doch alles das Gleiche“.
So beginnt die Dokumentation „Auserwählt und ausgegrenzt – der Hass auf Juden in Europa“, die die ARD jetzt nach langen Querelen doch noch sendete, nachdem der Auftraggeber Arte das abgelehnt hatte.
Und so beginnt sie nicht gut. Denn diese Paraphrase auf das antisemitische Stereotyp von den Juden und den Radfahrern ist ihrerseits die nochmalige Überzeichnung der Parodie und of- fenbart als Introduktion, was dieser Film ist und sein will: Eher ein moralisches Statement als eine sachliche Dokumentation, eher eine radikale Polemik als eine inhaltliche Auseinandersetzung. Gewiss, über Antisemitismus soll und kann man nicht ohne moralischen Furor berichten.
Über den Nahostkonflikt hingegen, über die Auseinandersetzung des Staates Israel mit den Palästinensern, über die Gewalt auf beiden Seiten, ursprünglich meist von den Palästinensern ausgehend, soll und muss man mit Sachlichkeit recherchieren und informieren. Diese Seriosität ist nicht gegeben, wenn etwa die Zustände in Gaza mit dem Weichzeichner gesehen werden, wenn über den Kampf mit den Palästinensern, über ihre Flucht und Vertreibung im Gründungsjahr 1948 ein israelischer Veteran die einzige Quelle ist.
Das sind tatsächlich, wie der WDR geltend machte, handwerkliche Män- gel, die sich verdichten zu einem teilweise unbehaglichem Gefühl, auch bei einem, der Namensstifter dieser Kolumne nimmt das für sich sehr massiv in Anspruch, der eine emotionale und rationale Affinität zu dem Staat Israel hat. Dieser zweifelsfrei manipulative Grundgestus des Filmes beschädigt ihn, und also das Thema, er bietet eine weit geöffnete Flanke. Und, das vor allem, die intensive und einseitige Beschäftigung mit dem Nahostkonflikt, das hastende und oberflächliche Schweifen in die Historie des Antisemitismus, verstellen den Blick auf die eigentliche Frage: Den Antisemitismus in Europa.
Hier hat der Film, und das ist konsequent, denn dann braucht er keine Argumente, seine starken, bedrückenden Momente, wenn ein Deutscher die „Protokolle der Weisen von Zion“„kluge Gedanken“nennt, wenn in einem Pariser Vorort lediglich starke Polizeikräfte ein Pogrom durch den antisemitischen Mob verhindern. Das mag auch ein Grund gewesen sein, warum der deutsch-französische Sender Arte die Ausstrahlung verweigerte, diese Bilder eines ungehemmten Judenhasses. Und der WDR, der den Film bereits abgenommen hatte, saß in einem Boot mit dem französischen Partner. Die schließliche Präsentation durch die ARD war dann nahe an einer Parodie politischer Korrektheit: Ständige Einblendungen, die auf den „Faktencheck“im Netz verwiesen, und dort einen Exzess an oberlehrerhaften Ergänzungen boten – Ergänzungen, auf die ohne die Vorgeschichte niemand verfallen wäre.
Immerhin, so hatte der Film eine Öffentlichkeit, die er nie gefunden hätte, wäre er bei seinem eigentlichen Thema geblieben. Und das ist das eigentlich zu Bedauernde: Dass dieses Thema, der Antisemitismus in Europa und seine Hintergründe, so nicht mit der möglichen Schärfe zum Tragen kam. Natürlich gibt es so etwas wie einen neuen, einen verstärkten Antisemitismus – und natürlich ist das ein politisch sensibles Thema. Denn ohne Zweifel bringen viele der muslimischen Flüchtlinge ihren gleichsam genetischen Judenhass, mit dem sie, mit Blick auf Israel, sozialisiert wurden, mit in ihre Gastländer.
In gewisser Weise bezahlen in der Tat die Palästinenser die Rechnung für den deutschen Völkermord an den Juden, denn der Holocaust, das mag zynisch klingen, bildet in gewisser Weise den Grundstein für das Land Israel, er ist die Garantie der historischen, nicht individuellen, Verantwortung Deutschlands für das Existenzrecht des Staates der Juden.
Die Kritik an der Politik dieses Staates, der gerade den völkerrechtswidrigen Neubau einer Siedlung im Westjordanland ankündigte, ist schwer zu scheiden von einem sich in dieser manchmal etwas bräunlichen Grauzone damit fröhlich camouflierenden Antisemitismus. Nicht nur Deutsche nehmen diese Möglichkeit dankbar an, weil sie sich so mit einem moralischen Gestus von dem moralischen Diktum befreien möchten, das der Holocaust ist und bleibt. Das ist das eigentliche Thema – und das hat dieser Film leichtfertig vergeben.