Thüringer Allgemeine (Arnstadt)
Zur Person
Die nächste Europawahl ist die wichtigste Wahl dieses Jahrzehnts. Hier wird sich entscheiden, wo es mit unserem Kontinent hingeht. Für mich ist die Europäische Union etwas sehr Persönliches. Meine beiden Söhne haben Großeltern aus vier europäischen Ländern, die vor nicht allzu langer Zeit noch Krieg gegeneinander geführt haben: Deutschland, Großbritannien, Niederlande und Spanien. Ich habe die deutsche und die britische Staatsbürgerschaft, der Brexit bewegt mich tief. Dazu kommt, dass mir meine Partei sehr am Herzen liegt. Ich will meinen Beitrag dazu leisten, die SPD wieder nach oben zu führen. Sie haben sich erst gegen diese Kandidatur gesträubt und dann doch eingewilligt. Ist Ihre Zuversicht, dass die große Koalition noch lange hält, geringer geworden?
Nein. Die Koalition hat noch viel vor. Deswegen gehe ich davon aus, dass alle willens sind, sie fortzusetzen. Die SPD hat schon viel umgesetzt, sehen Sie nur das Gute-Kita-Gesetz, mein Gesetz für einen besseren Mieterschutz oder Verbesserungen bei der Rente. Diese wirklich gute Arbeit wird leider vom Dauerstreit in der Union immer wieder überdeckt. Damit muss endlich Schluss sein.
Sitzt SPD-Chefin Nahles fest im Sattel – ganz gleich, wie in einer Woche die Hessen-Wahl ausgeht?
Ja. Sie hat meine volle Unterstützung und die der gesamten SPD. Ich halte Andrea Nahles für eine ganz außergewöhnliche Politikerin. Es ist unglaublich, was sie in den vergangenen Jahren geleistet hat. Sie war Generalsekretärin, hat als Arbeitsministerin alles gerockt – und dann erfolgreiche Koalitionsverhandlungen mit der Union geführt. Jetzt ist sie eine sehr gute Parteiund Fraktionschefin. Ich ziehe den Hut vor Andrea Nahles.
Fällt Ihnen ein Gewinnerthema für den Europawahlkampf ein?
Es sind nicht einzelne Fachthemen, die bei dieser Wahl wichtig werden, sondern die Frage, in welche Richtung die Europäische Union gehen soll. Wie schaffen wir sozialere Politik zum Wohle aller? Und wie treten wir dem überall aufkeimenden Nationalismus entgegen? Dazu gibt es in den Parteien sehr unterschiedliche Einstellungen. Ich finde es auch wichtig, dass sich die Menschen von der EU besser geschützt fühlen. Daher unterstütze ich den Vorschlag von Finanzminister Olaf Scholz, einen europäischen Arbeitslosenfonds einzuführen. Davon würde am Ende ganz Europa profitieren. Die Reaktion der CDU/CSU zeigt ein Kernproblem der Europapolitik … CDU und CSU tun bewusst wahrheitswidrig so, als wäre das der Einstieg in eine Transferunion. Das stimmt aber nicht. Es würden lediglich die nationalen Systeme abgesichert, falls sie die Auswirkungen einer Krise nicht allein bewältigen können. Alle Leistungen, die aus diesem Fonds ausbezahlt würden, müssten auch zurückgezahlt werden. Wir müssen die Lehren aus der Vergangenheit ziehen. Dazu gehört, vorzusorgen, um im Krisenfall die Europäische Union wirtschaftlich und sozial stabilisieren zu können.
Kurz vor der Europawahl wird Großbritannien die EU verlassen. Oder ist der Brexit noch zu verhindern?
Ich bin der Meinung, dass die Briten noch einmal die Gelegenheit bekommen sollen, über den Brexit abzustimmen. Zu dem Zeitpunkt, als das Referendum stattfand, hatten weder Befürworter noch Gegner eine konkrete Vorstellung, was ein Austritt aus der EU bedeuten würde. Ich respektiere ganz ausdrücklich das Votum der britischen Bevölkerung. Aber die Umsetzung eines Brexits wird ja jetzt erst greifbar. Dazu die Briten noch einmal zu befragen, fände ich fair.
Wenn es nicht zu einem zweiten Referendum kommt und auch kein Austrittsvertrag zwischen der EU und Großbritannien gelingt, welche Folgen hätte ein „wilder Brexit“?
Die Folgen könnten dramatisch sein. Für unendlich viele Fragen gäbe es keine Regelung – vom Katarina Barley (49) ist seit März 2018 Bundesjustizministerin. Zuvor war die gebürtige Kölnerin Bundesfamilienministerin und SPD-Generalsekretärin. Die Juristin arbeitete als Rechtsanwältin und Richterin, seit 2013 sitzt sie im Bundestag. Die Tochter einer Deutschen und eines Briten hat beide Pässe, neben Mutter- und Vatersprache spricht sie Französisch und Spanisch. Barley ist geschieden und hat zwei Söhne. Status der jeweiligen Staatsbürger bis hin zum Flugverkehr zwischen Großbritannien und dem Kontinent.
Welche Verantwortung trägt Kanzlerin Merkel für Europas Krise? Ist sie Problem oder noch Teil der Lösung?
In der Finanzpolitik brauchen wir eine neue Balance in Europa. Jeder Mitgliedstaat muss Verantwortung übernehmen – allerdings ohne dabei drangsaliert zu werden. Ich weiß gar nicht, ob Merkel selbst auf diese Politik gekommen ist oder eher ihr damaliger Finanzminister Schäuble. Ich fand vor allem den Stil, wie mit den Südeuropäern umgegangen wurde, nicht angemessen.
Ist das auch ein Plädoyer, die italienische Regierung aus Links- und Rechtspopulisten gewähren zu lassen, wenn sie 2019 massiv Schulden machen will?
Nein. Bei allen berechtigten Anliegen, die wir haben, dürfen wir aber nicht schulmeisternd oder belehrend werden. Den Ansatz, alle müssten es so machen wie die Deutschen, finde ich ausgesprochen problematisch.
„Es ist unglaublich, was Nahles geleistet hat.“