Thüringer Allgemeine (Arnstadt)
Bamf versäumte Abschiebefrist
Köln-Attentäter hätte nach Tschechien ausgewiesen werden können. 55-Jähriger noch im Koma
Berlin/Köln. Als der Syrer Mohammad A. R. im März 2015 Asyl in Deutschland beantragt, bahnt sich im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) gerade ein großer Kollaps an. Experten warnen: Die Zahl der Menschen, die nach Deutschland kommen, wird drastisch steigen. Der damalige Bamf-Chef Manfred Schmidt fordert intern mehr Personal für sein Amt, seit Monaten. Etliche Tausend Asylakten stapeln sich bereits unbearbeitet, die IT der Behörde ist völlig veraltet. Doch in diesen Monaten wird nichts passieren. Die Bundesregierung ignoriert die Warnsignale. Mohammad A. R. erhält Schutz.
Jetzt kommt heraus, dass der 55 Jahre alte A. R. 2015 eigentlich hätte nach Tschechien abgeschoben werden müssen. Dort sei der Mann mit einem Visum, ausgestellt von der tschechischen Botschaft im Libanon, in den EU-Schengenraum eingereist, schreibt das Bamf auf Nachfrage. Dort hätte entsprechend sein Asylverfahren laufen müssen – und er wäre auch dort als syrischer Flüchtling anerkannt worden. Doch Mohammad A. R. ist nicht in Tschechien. Er liegt heute in einem Kölner Krankenhaus im Koma, Schüsse der Polizei trafen ihn auch in den Kopf. Am Montag hatte der Mann einen Brandanschlag verübt, war mit Benzin und präparierten Gaskartuschen in die Filiale von McDonald’s im Kölner Hauptbahnhof gegangen, verletzte ein Mädchen schwer, rannte in die Apotheke im Bahnhof, nahm eine Geisel. Nach zwei Stunden schossen ihn Spezialkräfte der Polizei nieder. Die Bundesanwaltschaft hat den Fall übernommen, sieht „zureichende Anhaltspunkte“für ein islamistisches Motiv der Tat.
Das Bamf räumt nun Fehler ein. Die Frist von drei Monaten, um den Syrer nach Tschechien „zu überstellen“, ließ das Amt verstreichen. Laut dem DublinAbkommen muss ein Asylbewerber das Verfahren in dem Staat durchlaufen, in dem er zuerst einreist und registriert ist. Warum das Bundesamt keinen Antrag auf Übernahme des Verfahrens an Tschechien gestellt hat, sei dreieinhalb Jahre später „nicht mehr nachvollziehbar“. Aus der Akte ergeben sich keine Anhaltspunkte.
Einen Antrag auf Asyl hatte Mohammad A. R. in Tschechien laut Bamf nicht gestellt, im gemeinsamen Datensystem der EU finden sich keine Fingerabdrücke. Offenbar war er schnell nach Deutschland weitergereist und stellte hier im März 2015 einen Asylantrag.
Mohammad A. R. war damals kein Einzelfall, sondern eher die Regel. Aufgrund der Überlastung der Asylbehörde war die Dublin-Regel in den ersten Monaten 2015 faktisch außer Kraft gesetzt. Im August 2015 beschloss die Bundesregierung sogar ganz offiziell, die Regelung für Menschen aus Syrien auszusetzen. Erst im Oktober 2015 wurde das Dublin-Verfahren wieder eingeführt, zumindest offiziell. Zu diesem Zeitpunkt flohen jedoch schon Zehntausende Menschen über die Balkanroute Richtung Österreich und Deutschland. Nur die wenigsten wurden zu diesem Zeitpunkt überhaupt noch durch Polizei oder Ausländerbehörden etwa in Griechenland oder auf dem Balkan registriert. Und beim Bamf wuchsen die Aktenberge. Drei Jahre später kommen deutlich weniger Flüchtlinge nach Deutschland, vieles ist neu beim Bamf – einschließlich der Amtsleitung. Union und SPD fordern „konsequentere Abschiebungen“, auch einige Grüne. Und: Deutschland hat im laufenden Jahr bereits mehr als dreimal so viele Migranten per Charterflug in andere europäische Staaten überstellt wie 2017. Die Bundespolizei schob von Januar bis Juli 485 Menschen auf insgesamt 17 sogenannten Dublin-Sammelflügen ab. Im Vorjahr waren es 153 Menschen auf sieben Flügen, 2016 waren es lediglich 26 Menschen auf zwei Flügen.
Und doch sind die Abschiebungen in andere EU-Staaten aus Sicht von Bamf und Ausländerbehörde noch immer eines der größten Probleme. Noch immer sind fast alle der von Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) und Kanzlerin Angela Merkel (CDU) im Sommer angekündigten Abkommen zur „Rücknahme“von Flüchtlingen nicht unterzeichnet. In der europäischen Asylpolitik machen die Staaten vor allem Alleingänge. Auf Nachfrage unserer Redaktion stellten die deutschen Behörden von Januar bis September 2018 insgesamt 43.000 Anträge an einen EU-Mitgliedstaat auf Übernahme eines Asylverfahrens nach Dublin-Regelung. 12.368-mal lehnte der entsprechende EU-Staat die Übernahme ab, 29.994-mal stimmte ein Staat zu. In nur 7208 Fällen schickte Deutschland den Asylsuchenden auch in das jeweilige EU-Land zurück.
Den Syrer Mohammad A. R. hätte das Bamf 2015 nach Tschechien zurückschicken können. Ob er sich dort ebenfalls radikalisiert hätte, bleibt Spekulation.
Der Syrer stellt Asylantrag in Prag
Ein Teil der Dublin-Fälle abgeschoben