Thüringer Allgemeine (Arnstadt)
Aus der Anstalt
Nein, sie haben mich nie gefragt. Und deshalb weiß nun jeder, der das sieht, dass ich wohne, wo ich wohne, und die Dame mit mir. Letzteres ist zwar großartig, aber womöglich will ich, bekannt als Diskretionsfetischist, ja dieses süße Geheimnis für mich behalten. Und damit haben wir nun folgende Situation: „Auch in der stillen Duldung durch die Mieter, nämlich dass der Name am Klingelschild steht, kann keine wirksame Einwilligung im Sinne des Datenschutzrechts erblickt werden. Möglich sind zwar auch . . . stillschweigend erteilte Einwilligungen. Allerdings muss die Einwilligung vor der Datenverarbeitung und somit vor dem Beschriften und Anbringen des Klingelschildes eingeholt werden. Eine nachträgliche Zustimmung ist nicht möglich und würde die Datenverarbeitung durch den Vermieter nicht rechtfertigen“. So sagt eine Anwaltskanzlei.
Was mache ich nun? Die Leute, die unsere Wohnung gebaut haben, dachten gar nicht daran, uns zu fragen, und – unter uns gesagt – wir dachten auch nicht daran. Und nun haben wir den Salat, will sagen, den Datenschutz. Ich würde gern, informell selbst bestimmt, im Nachhinein zustimmen, aber das darf ich nicht, sagen diese Anwälte. In Wien schrauben sie ja nun 220.000 Klingelschilder ab und ersetzen sie durch Nummern. Wenn dann jemand jemandem zum ersten Mal einen Brief schickt, kennt er ja die Wohnungsnummer nicht – ruft er dann vorher an? Denn der Briefträger oder der Medienlogistiker – vulgo: Zeitungszusteller – darf den Namen ja auch nicht kennen. Im Prinzip. Denn im Detail wird er ja, wenn Herr Max Mütze regelmäßig Post bekommt an die Wohnungsnummer 0/8/15, beides, den Namen und die Nummer, zusammendenken – und wo ist dann der Datenschutz? Genau, im Dings. Denn der
Henryk Goldberg ist
Publizist und schreibt jeden Samstag seine Kolumne
Briefträger weiß dann, dass Herr Max Mütze hier wohnt und all die anderen auch. Und wieso darf der das wissen? Früher einmal durften Mitglieder der DKP keine beamteten Briefträger sein – wird nun dieser ehrenwerte Berufsstand neuerlich einer Zuverlässigkeitsprüfung unterzogen, wird der Briefträger Geheimnisträger? Fragen über Fragen.
Es gibt im Internet ein schönes altes Klassenfoto. Darauf sind unter anderem zu sehen Henryk G., Regina S., geb. B., Heidi D., geb. Sch., Frank Z. sowie der wunderbare Herr Stierwald. Niemand hat uns damals gefragt, nun gut, das war das Regime. Aber jetzt? Herr Stierwald ist leider gestorben – hat jemand seine Nachkommen gefragt? Ich bin auf diesem Foto irgendwie unglücklich getroffen, eigentlich sehe ich nämlich viel besser aus, viel männlicher – wieso zum Teufel dürfen die das?
Ich weiß schon, das ist übertrieben, das wird schon nicht so heiß gegessen. Aber erst mal wird tüchtig heiße Luft geblasen. Und zwar so lang, bis sie die Mehrheit der Menschen davon überzeugt haben, dass Datenschutz im Eigentlichen ein Quark ist, eine Lächerlichkeit, die die da oben sich so ausgedacht haben. Nein, das ist es nicht, eigentlich. Jeder Arzt, den ich in den letzten Monaten aufsuchte, ließ mir einen Vordruck, betreffend meiner Einwilligung zur Verarbeitung meiner Daten über den Tresen schieben. Ausnahmslos Ärzte, die meine Daten schon lang haben. Gesetzt, ich unterschriebe nicht – und eine Einwilligung ist ja nur sinnvoll, wenn auch ihre Verweigerung möglich und sinnvoll ist – was wäre dann? Dann könnten sie mich nicht mehr behandeln, dann wüssten sie nicht, welche Rechnung sie wohin schicken können, dann wüssten sie nicht mehr, welche Dosis von welchem Medikament sie letztens verschrieben haben, welche Untersuchung in diesem Monat, festgelegt vor einem halben Jahr, unbedingt fällig ist. Dann könnten sie mit mir über Fußball oder Radfahren oder Zeitung plaudern, nur behandeln könnten sie mich nicht, es sei denn, bei Lebensgefahr. Natürlich, alle Patienten werden unterschreiben, sonst können sie ja keine Patienten mehr sein, und alles wird so bleiben wie es war, im Prinzip. Nur mit dem Unterschied, dass die verunsicherten Arztpraxen noch mehr Formulare, noch mehr Bürokratie haben. Und das System hat sich wieder einmal grunzend selbst bewegt. Wir brauchen gar nicht auf die Künstliche Intelligenz zu warten, um zu erleben, dass sich Prozesse vollziehen, in die Menschen nicht mehr regulierend eingreifen können. Diese Prozesse laufen schon seit über hundert Jahren in der Bürokratie. Deutsch, so hat schon Richard Wagner gesagt, bedeute „. . . die Sache, die man treibt, um ihrer selbst und der Freude an ihr willen treiben.“Aber das gilt nicht nur im Wagner-Land, es gilt in der ganzen EU.
Übrigens wurde ich von dieser Zeitung nie gefragt, ob sie meinen Namen und mein Bild verarbeiten dürfen. Mal sehen, vielleicht ist da ein kleines Schmerzensgeld drin.