Thüringer Allgemeine (Arnstadt)
Endzeit, aber sofort
auch das Phänomen Kanzler(in)dämmerung, das traditionell 100 Tage nach der Vereidigung beginnt.
Und schließlich ist da das Ende der sogenannten Volksparteien, das seit der Erfindung des sogenannten Fachs Politikwissenschaft mit akademischer Präzision für die jeweils nächste Wahl vorhergesagt wurde. Nun aber soll es, mit ein paar lächerlichen Jahrzehnten Verspätung, gänzlich sicher nahe sein.
Der wissenschaftliche Befund lautet: Die sozialen Milieus erodieren, die Wählerschaft wird fragmentiert. Die Mitte schrumpft und mit ihr die Organisationen, die sie vertreten. In einer Zeit, in der die Parteien ihre Bindekraft verlieren, ist der Wechselwähler, der sich seine Klientelpartei nach Tagesgeschmack aussucht wie die Joghurtsorte und eh mehr Personen als Parteien wählt, der neue Fetisch des politischen Betriebs.
Natürlich ist da einiges dran. Die Zahl der Parlamentsparteien hat sich seit den 1980er Jahren verdoppelt. In den Ländern müssen sich immer mehr und immer buntere Dreierbündnisse bilden. Selbst die CSU, Gott behüte, kann nicht mehr allein regieren.
Einerseits. Andererseits vereinigten Union und SPD bis vor einem Jahr eine Mehrheit von zwei Drittel der Wählerstimmen und drei Viertel der Bundestagsmandate auf sich. Das Problem war eher, dass sie unbedingt koalieren mussten.
Auch die CSU hatte schon mal ihre Macht zu teilen und konnte sich dennoch 2013 die absolute Mehrheit zurückholen. Und was das Mantra von der Überpersonalisierung der Politik betrifft: Bei der AfD ist es derzeit so, dass sie oft trotz der Menschen gewählt wird, die vorne dran stehen.
Bei allen Wahlergebnissen, Dauerumfragen und neunmalschlauen Studien lässt sich eben nicht wirklich sagen, was passieren wird. Sonst hätte ja irgendjemand auch die Finanzkrise, den arabischen Frühling und diesen Trump vorhergesagt.
Es mag ja sein, dass Deutschland mehr als 70 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wieder reif für eine Partei rechts der Mitte ist – genauso, wie es seit gut zehn Jahren eine relevante, gesamtdeutsche Partei links der SPD gibt. Doch der Aufstieg der AfD folgt keinem Naturgesetz, genauso wenig wie der Niedergang von CDU, CSU und SPD. Eher ist so, dass von der diffusen Enttäuschung, welche die einen auslösen, die anderen profitieren.
Denn die Leute wollen ja immer noch mehrheitlich den guten alten BRD-Mix aus Wohlstand, Sicherheit und bürgerlicher Freiheit, wofür die Union traditionell steht. Und sie wollen immer noch Gerechtigkeit und Umverteilung, wofür die Sozialdemokraten zumindest in ihren Liedern seit 150 Jahren kämpfen.
Doch das Vertrauen hat gelitten. Bei der SPD waren es die Sozialreformen ab 2004, bei der Union viele Entscheidungen in Euro- und Flüchtlingskrise. Hinzu kommt der ewige Zank.
Vielleicht verschwinden die Volksparteien also gar nicht, sondern gehen nur ein wenig ein, reformieren sich oder wechseln gar die Farbe. Im Osten will die Linke schon länger volkig sein – die AfD jetzt auch, dann selbstverständlich streng völkisch.
Die Grünen, eigentlich eine klassische Klientelpartei, haben gerade Erfolg, weil sie nicht nur in Baden-Württemberg die bewährten CDU- und SPD-Themen in ihr Angebot integriert haben, zusätzlich zu ihren Kernprogramm wie Umwelt-, Tier- und Klimaschutz. Auch gut verdienende Ökopaxe sind neuerdings für stärkere Polizei und die Reform von Hartz IV.
Am nächsten Sonntag, in Hessen, läuft das letzte Mal in diesem Jahr das Wähler-wechsel-dich-Spiel. Beginnt dann das Großreinemachen in Union und SPD? Oder geht es so weiter, irgendwie? Oder dräut wirklich das Ende, erst das der Groko, und dann . . .?
Wer weiß. „Auch wir suchen Orientierung!“, rief am Samstag der frisch geschlüpfte Spitzenkandidat der Thüringer CDU der Kanzlerin zu. Sie lächelte milde, nahm ihren Eichsfelder Wurstkorb und flog eilig von dannen.