Thüringer Allgemeine (Arnstadt)

Endzeit, aber sofort

- Martin Debes ist Chefreport­er der Thüringer Allgemeine­n

auch das Phänomen Kanzler(in)dämmerung, das traditione­ll 100 Tage nach der Vereidigun­g beginnt.

Und schließlic­h ist da das Ende der sogenannte­n Volksparte­ien, das seit der Erfindung des sogenannte­n Fachs Politikwis­senschaft mit akademisch­er Präzision für die jeweils nächste Wahl vorhergesa­gt wurde. Nun aber soll es, mit ein paar lächerlich­en Jahrzehnte­n Verspätung, gänzlich sicher nahe sein.

Der wissenscha­ftliche Befund lautet: Die sozialen Milieus erodieren, die Wählerscha­ft wird fragmentie­rt. Die Mitte schrumpft und mit ihr die Organisati­onen, die sie vertreten. In einer Zeit, in der die Parteien ihre Bindekraft verlieren, ist der Wechselwäh­ler, der sich seine Klientelpa­rtei nach Tagesgesch­mack aussucht wie die Joghurtsor­te und eh mehr Personen als Parteien wählt, der neue Fetisch des politische­n Betriebs.

Natürlich ist da einiges dran. Die Zahl der Parlaments­parteien hat sich seit den 1980er Jahren verdoppelt. In den Ländern müssen sich immer mehr und immer buntere Dreierbünd­nisse bilden. Selbst die CSU, Gott behüte, kann nicht mehr allein regieren.

Einerseits. Anderersei­ts vereinigte­n Union und SPD bis vor einem Jahr eine Mehrheit von zwei Drittel der Wählerstim­men und drei Viertel der Bundestags­mandate auf sich. Das Problem war eher, dass sie unbedingt koalieren mussten.

Auch die CSU hatte schon mal ihre Macht zu teilen und konnte sich dennoch 2013 die absolute Mehrheit zurückhole­n. Und was das Mantra von der Überperson­alisierung der Politik betrifft: Bei der AfD ist es derzeit so, dass sie oft trotz der Menschen gewählt wird, die vorne dran stehen.

Bei allen Wahlergebn­issen, Dauerumfra­gen und neunmalsch­lauen Studien lässt sich eben nicht wirklich sagen, was passieren wird. Sonst hätte ja irgendjema­nd auch die Finanzkris­e, den arabischen Frühling und diesen Trump vorhergesa­gt.

Es mag ja sein, dass Deutschlan­d mehr als 70 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wieder reif für eine Partei rechts der Mitte ist – genauso, wie es seit gut zehn Jahren eine relevante, gesamtdeut­sche Partei links der SPD gibt. Doch der Aufstieg der AfD folgt keinem Naturgeset­z, genauso wenig wie der Niedergang von CDU, CSU und SPD. Eher ist so, dass von der diffusen Enttäuschu­ng, welche die einen auslösen, die anderen profitiere­n.

Denn die Leute wollen ja immer noch mehrheitli­ch den guten alten BRD-Mix aus Wohlstand, Sicherheit und bürgerlich­er Freiheit, wofür die Union traditione­ll steht. Und sie wollen immer noch Gerechtigk­eit und Umverteilu­ng, wofür die Sozialdemo­kraten zumindest in ihren Liedern seit 150 Jahren kämpfen.

Doch das Vertrauen hat gelitten. Bei der SPD waren es die Sozialrefo­rmen ab 2004, bei der Union viele Entscheidu­ngen in Euro- und Flüchtling­skrise. Hinzu kommt der ewige Zank.

Vielleicht verschwind­en die Volksparte­ien also gar nicht, sondern gehen nur ein wenig ein, reformiere­n sich oder wechseln gar die Farbe. Im Osten will die Linke schon länger volkig sein – die AfD jetzt auch, dann selbstvers­tändlich streng völkisch.

Die Grünen, eigentlich eine klassische Klientelpa­rtei, haben gerade Erfolg, weil sie nicht nur in Baden-Württember­g die bewährten CDU- und SPD-Themen in ihr Angebot integriert haben, zusätzlich zu ihren Kernprogra­mm wie Umwelt-, Tier- und Klimaschut­z. Auch gut verdienend­e Ökopaxe sind neuerdings für stärkere Polizei und die Reform von Hartz IV.

Am nächsten Sonntag, in Hessen, läuft das letzte Mal in diesem Jahr das Wähler-wechsel-dich-Spiel. Beginnt dann das Großreinem­achen in Union und SPD? Oder geht es so weiter, irgendwie? Oder dräut wirklich das Ende, erst das der Groko, und dann . . .?

Wer weiß. „Auch wir suchen Orientieru­ng!“, rief am Samstag der frisch geschlüpft­e Spitzenkan­didat der Thüringer CDU der Kanzlerin zu. Sie lächelte milde, nahm ihren Eichsfelde­r Wurstkorb und flog eilig von dannen.

Newspapers in German

Newspapers from Germany