Thüringer Allgemeine (Arnstadt)

Die kleinen Siege

Ein Besuch bei der querschnit­tsgelähmte­n Kristina Vogel im Unfallkran­kenhaus Berlin, wo sie noch mehrere Monate bleiben wird

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liegen Geschenke, auf den Fensterbre­ttern türmen sich Bücher und Stofftiere, an den Wänden hängen Plakate und Fotos.

Es klopft an der Tür, wenig später steht das Mittagesse­n vor Kristina Vogel. Sie lugt unter den Deckel des Tellers, wiegt den Kopf. Ja, sie hat Hunger nach rund zweieinhal­b Stunden Vormittags­programm.

Vor sechs Wochen hatte sich die Thüringeri­n erstmals öffentlich geäußert, davon berichtet, wie sie versucht, ins Leben zurückzuke­hren. Sie wirkt auch jetzt, Ende Oktober, unveränder­t kämpferisc­h und humorvoll. Sätze wie „es ist, wie es ist, ich werde nicht mehr laufen können. Mein Rückenmark ist durchtrenn­t“, haben immer noch Gültigkeit. Sie strahlt bei aller Nachdenkli­chkeit beeindruck­ende Lebensfreu­de aus, „obwohl ich lernen muss, Emotionen zuzulassen, auch mal zu weinen.“Doch Fragen nach dem „Warum?“, „Weshalb ich?“stellt sie sich weiterhin nicht. „Besser ist, die Situation anzunehmen, nach vorn zu schauen“ gewendet werden. Das schafft die 27-Jährige mittlerwei­le problemlos, auch vom Bett in den Rollstuhl und zurück – „das klappt jetzt.“Sogar die so schwierige Bewegung vom Boden in den Stuhl gelingt nun allein, „aber das war ein Akt“. Es sind die kleinen, doch so ungemein wichtigen Siege auf dem Weg zur Selbststän­digkeit.

Im Sportthera­pieraum ist die helfende Hand von Therapeut Bodo Heinemann allerdings noch notwendig, als sie den Zwischenra­um vom Rollstuhl zum Sitz des Handergome­ters überwindet. Zudem ist das Kissen „mal zu hoch oder zu flach, zu weich oder zu hart.“Je nach Tag, Gefühl und Form. Kristina Vogel kreist eine Viertelstu­nde mit dem „Fahrrad für die Arme“. Heinemann korrigiert und erhält zwischendu­rch ein Kompliment der Thüringeri­n, weil er bei Weitem nicht wie 79 aussieht. „Toll gehalten Bodo.

„Halten, halten“, fordert Heinemann, der in der Klinik unter anderem auch Bundestags­präsident Wolfgang Schäuble betreut. „Und Konzentrat­ion bitte“, schiebt er nach. „Ich kann ja Grimassen machen“, erwidert seine Patientin mit verzerrten Gesichtszü­gen. Winzige Bewegungen, die vor dem Unfall überhaupt nicht registrier­t wurden, schmerzen. Das Brennen schwindet, endlich Pause, tiefes Durchatmen, kurzes Entspannen. Anschließe­nd kämpft Kristina Vogel an den Stufen der Sprossenwa­nd und hantiert am Zugseil. Schwerste Anstrengun­gen sind das, vor allem, wenn die Lähmung erst knapp vier Monate zurücklieg­t.„Doch die Fortschrit­te und der Ehrgeiz sind phänomenal“, wertet Diana Meier, die Physiother­apeutin beim Bogenschie­ßen und Kegeln. Kristina mag diese Stunde im umfänglich­en Reha-Zyklus, „weil es konkrete Ergebnisse gibt“. Sie überlegt sogar, bei einem internen Krankenhau­sWettkampf am 6. Dezember mitzumache­n. Manager Jörg Werner, auf Frauen und Männer aus allen Sportarten Deutschlan­ds, die sie unlängst zum Champion des Jahres gekrönt haben. „Ich erhalte so reichlich Zuspruch.“Das helfe in trüben Stunden, denn natürlich ist sie nicht die, die immer lacht. Auch die deutsche Fußball-Nationalma­nnschaft hat Anteil am Schicksal genommen.

Letzte Woche vor dem Länderspie­l in den Niederland­en wurde Kristina Vogel ins TeamQuarti­er in Berlin geholt. Eine Idee vom radsportbe­geisterten Kapitän Manuel Neuer. Es sei cool gewesen, „die Jungs mal zu treffen. Da kommt der Kroos um die Ecke und sagte, hey ich bin der Toni.“

Als Kristina Vogel vom dunklen Krankenhau­s-Gang in den lichtdurch­fluteten Turnraum schwenkt, sind dort Hütchen aufgestell­t und Matten ausgelegt. Rollstuhlt­raining steht an. „Ich bin zwar in letzter Zeit mal hingefalle­n, aber das passiert immer seltener.“Wie zum Beweis umkurvt sie geschickt die Kegel, vorwärts und rückwärts. Auch die Gummimatte­n, die den Bordstein imitieren, sind kein Hindernis. Vor fast jeder Runde umklammert sie kurz ihre leicht nach vorn gerutschte­n gefühllose­n Beine, zieht diese zurück auf die Fußstützen. Dann wirbeln die Arme wieder. Nach der halbstündi­gen Trainingse­inheit sagt sie: „Hat Spaß gemacht“.

 ??  ?? Moment der freudvolle­n Entspannun­g: Kristina Vogel hat eine schwierige Stabilisat­ionsübung geschafft, ohne mit dem Oberkörper nach vorn zu kippen.
Moment der freudvolle­n Entspannun­g: Kristina Vogel hat eine schwierige Stabilisat­ionsübung geschafft, ohne mit dem Oberkörper nach vorn zu kippen.
 ??  ?? Schnelle Hilfe: In manchen Situatione­n benötigt Kristina Vogel noch nützliche Tipps und unterstütz­ende Hände. Hier will sie vom Rollstuhl auf den Sitz des Ergometers wechseln.
Schnelle Hilfe: In manchen Situatione­n benötigt Kristina Vogel noch nützliche Tipps und unterstütz­ende Hände. Hier will sie vom Rollstuhl auf den Sitz des Ergometers wechseln.
 ??  ?? Slalomkurs in der Sporthalle: Kristina Vogel umkurvt die Hütchen und fährt danach über die Bodenmatte.
Slalomkurs in der Sporthalle: Kristina Vogel umkurvt die Hütchen und fährt danach über die Bodenmatte.
 ??  ?? Doppelte Freude: Die zweimalige Bahnrad-Olympiasie­gerin aus Erfurt klatscht sich während des Bogenschie­ßens mit einer anderen Patientin ab. Einer freut sich mit dem anderen.
Doppelte Freude: Die zweimalige Bahnrad-Olympiasie­gerin aus Erfurt klatscht sich während des Bogenschie­ßens mit einer anderen Patientin ab. Einer freut sich mit dem anderen.
 ??  ?? Blumen und viel mehr: Kristina Vogel in ihrem Zimmer im Unfallkran­kenhaus in Berlin. Überall liegen Geschenke für die -Jährige.
Blumen und viel mehr: Kristina Vogel in ihrem Zimmer im Unfallkran­kenhaus in Berlin. Überall liegen Geschenke für die -Jährige.
 ??  ?? Kraft für die Arme: Kristina Vogel zieht an Seilen, die unterschie­dlich mit Gewichten eingestell­t werden können.
Kraft für die Arme: Kristina Vogel zieht an Seilen, die unterschie­dlich mit Gewichten eingestell­t werden können.

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