Thüringer Allgemeine (Arnstadt)
„Viele Betroffene schweigen lieber, statt zu stottern“
Welttag des Stotterns soll dazu beitragen, Vorurteile abzubauen und negative Folgen abzuwenden. Thüringer wollen mit Bayern kooperieren
Gera. Trotz guter Hilfsangebote in Thüringen scheuen vom Stottern Betroffene oft diese anzunehmen. „Besonders bei jüngeren Menschen ist es nicht einfach, den ersten Kontakt herzustellen. Viele Betroffene schweigen lieber, anstatt zu stottern“, erklärte der Thüringer Regionalbeauftragte der Bundesvereinigung Stottern und Selbsthilfe (BVSS), Ralph Anschütz. Mögliche Folgen der Sprechstörung seien Rückzug aus Angst vor alltäglichen Situationen und tiefgreifende Auswirkungen auf alle Lebensbereiche. Dem Deutschen Bundesverband für Logopädie (dbl) zufolge leidet etwa ein Prozent der Bevölkerung an Stottern. Die Sprechstörung beginnt meist im Alter zwischen zwei und fünf Jahren, etwa 80 Prozent der Kinder überwinden diese Phase jedoch. Mit zunehmender Dauer sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass das Stottern wieder verschwindet. Ein Jahr nach dem ersten Auftreten liegt diese bei 50 Prozent. „Nach dem Ende der Pubertät müssen sich Betroffene auf ein Leben mit dem Stottern einstellen“, erklärte Nikola Depel vom dbl. „Therapiekonzepte, die Heilungsversprechen abgeben, sind unseriös.“Das Ziel von Therapien sei daher nicht eine Heilung, sondern ein möglichst souveräner Umgang mit dem Stottern, unter anderem durch die Anwendung spezieller Techniken.
In Thüringen unterhält die BVSS zwei Selbsthilfegruppen in Erfurt und Dingelstädt (Eichsfeld) mit durchschnittlich sechs bis zehn Teilnehmern. Die Nachfrage sei in den vergangenen Jahren stabil geblieben, berichtete Anschütz.
Genaue Zahlen zum Stottern werden in Thüringen nicht erhoben. Statistisch fällt das Problem laut Definition in die Kategorie „Sprech-, Sprach,- oder Stimmstörungen“. Nach Angaben Gesundheitsministeriums wurden bei der Einschulungsuntersuchung 2016/17 bei etwas mehr als einem Viertel der Kinder (26,1 Prozent) solche Störungen festgestellt. „Generell sind die Rahmenbedingungen in Thüringen aktuell recht gut“, erklärte Anschütz. Die Übernahme der Kosten durch die Krankenkassen habe sich in den vergangenen Jahren vereinfacht. Einen weiteren Aufschwung erhofft sich Anschütz durch den möglichen Anschluss an den bayerischen Landesverband der BVSS. Aktuell ist Thüringen das einzige Bundesland, das durch keinen Landesverband in der Bundesvereinigung für Stottern vertreten ist. „Wir könnten dann leichter an Seminaren teilnehmen, von den Erfahrungen der bayerischen Kollegen profitieren und einfacher Öffentlichkeitsarbeit betreiben“, sagte Anschütz.
Wer vom Stottern betroffen sei, solle unbedingt offensiv mit der Sprechstörung umgehen, so Anschütz, der die Schwierigkeiten selbst kennt. Gerade bei Jugendlichen sei das Internet zwar eine große Hilfe, um unangenehme Situationen zu umgehen. „Es erleichtert aber auch die Vermeidung.“Wer das Problem hingegen aktiv angehe, habe gute Chancen, mit der Sprechstörung leben zu lernen. (dpa)
Besser offensiv mit der Sprechstörung umgehen