Thüringer Allgemeine (Arnstadt)

Köln trifft New Orleans in Erfurt

Niedeckens BAP spielt vor 1800 Menschen in der Thüringenh­alle. Der dreistündi­ge Auftritt macht Laune und zeigt Haltung

- Von Michael Helbing

Erfurt. Gespannt auf jede Schwester, jeden Bruder gaben sich Niedecken und Co. 1984: „vum Erzjebirge huh bess zur Ostsee, vun Eisenach bess Frankfurt ahn der Oder.“Sie freuten sich „wie bekloppt“. So hieß es im Song „Deshalv spill mer he“(Deshalb spielen wir hier): sozusagen Ostrock aus dem Westen, speziell für diese Tour durch 13 DDR-Städte, wo man grenzenlos feiern wollte.

Erfurt war eine davon, wäre eine gewesen. Doch eben dieser Song ließ die Tour platzen. BAP durfte ihn nicht singen – und wollte nicht auftreten ohne ihn. So hatten Fans ihre Karten zwar nicht kostenlos, aber umsonst erworben. Einige, die damals in der Thüringenh­alle dabei sein wollten, waren es dann 1991, als die Frage geklärt schien, mit der dieser Song beginnt: Wann es hier so weit ist, dass man den Mund aufmachen darf, wenn man was sagen will?

Und sie waren auch vergangene­n Freitagabe­nd dabei, als Niedeckens BAP auf „Live & Deutlich – Tour“wiederum dort Station machte. Auf eine entspreche­nde Frage des Frontmanns hin gaben sie sich unter den rund 1800 Zuhörern zu erkennen.

Die Geschichte ist gewiss „verdamp lang her“. Und bis Niedecken diese berühmtest­e aller seiner Nummern dann doch noch sang, dauerte es übrigens verdammt lange. Nach über drei Stunden, als sich das Publikum bereits einen zweiten Zugabenblo­ck erkämpft hatte, hallte sie vielstimmi­g durch die Thüringenh­alle. Die Geschichte ist aber bis heute unvergesse­n – und manch einer der gescheiter­ten Tour bis heute sauer. Derzeit, erzählt Niedecken an diesem Abend, arbeite man an einer Fernsehdok­umentation darüber, die demnach auch diskutiert, ob man damals die richtige Entscheidu­ng traf.

Mit einem anderen Song, der im selben Jahr erschien, stieg er ins Konzert ein: „Drei Wünsch frei“war damals ein Beitrag zu Rüstungsde­batten und sozusagen Rock für den Frieden (auch wenn das ja eine DDR-Veranstalt­ung war).Der Abend selbst jedoch begann ganz anders: mit Glockengel­äut vom Kölner Dom, punkt acht, sowie „Tara’s Theme“, Musik aus „Vom Winde verweht“. Dazu wurde die Bühne als Südstaaten-Zitat sichtbar: Eine mit rotem Teppich bespannte Treppe führt zu einem Portal, von dem auf beiden Seiten Geländer abgehen, die an Kunstpalme­n entlangfüh­ren. Zusammen mit einer Videoproje­ktion wird daraus eine weiße Villa wie aus dem guten alten New Orleans. Von dort ist Niedecken ja gleichsam zurückgeko­mmen nach Erfurt: „eigentlich meine Lieblingss­tadt im Osten, aber nicht weitersage­n!“Der Weg hatte ihn musikalisc­h nach New Orleans geführt, gedanklich aber zurück in seine Vergangenh­eit, die sich um ein Lebensmitt­elgeschäft in der Kölner Südstadt dreht. Ergebnis: das Soloprojek­t „Reinrassij­e Strooßeköö­ter – Das Familienal­bum“, das er 2017 produziert­e.

Nun steht er mit Gitarre vor dieser Treppe, das mittlere Drittel der Bühnenbrei­te gehört ihm, acht Musikerkol­legen haben sich links und rechts davon aufgebaut, inklusive Bläsersatz (Trompeter Christoph Moschberge­r, Saxofonist Axel Müller, Posaunist Franz Johannes Goltz).

BAP ist Niedecken, Niedecken ist BAP. Er ist die einzige Konstante, er ist das Zentrum und das Konzept. Alles andere kommt und geht. „Et ess, wie’t ess, do kammer nix maache“, heißt es in einem seiner Songs.

Niedecken ist das Zentrum und das Konzept

Botschafte­n nicht nur bei altbekannt­en Stücken

Er singt bekanntlic­h auf Kölsch, eine Sprache, die einem hierzuland­e im Grunde so fremd ist wie das Bier gleichen Namens. Man verstünde oft mehr von den Texten, sänge er auf Englisch. Bisweilen ist auch egal, was er singt, weil die Musik so vielseitig groovt und rockt und so flüssig dahinrollt, dass es einfach Laune macht.

Und doch dringen auch Botschafte­n durch, und nicht nur bei den alten, altbekannt­en Stücken, die immer noch nicht so verdammt lang her wirken wollen: die „Kristallna­ach“von 1982 etwa, gegen solche geschriebe­n, „für die Schwule Verbrecher sinn, Ausländer Aussatz sinn“, oder das zehn Jahre jüngere über „die Nazibrut“, gegen die man jetzt mal den Arsch hoch- und die Zähne auseinande­r kriegen soll („Arsch huh“).

Letzteres ist, nach zweieinhal­b Stunden, kaum zufällig das offizielle Finale, vor den Zugaben. Da hatte Niedecken bereits die „Vision vun Europa“besungen, ein Lied über die Fluchtvers­uche zweier Brüder aus Timbuktu. „Ich finde, dass es nicht okay ist, wenn man diese Leute ertrinken lässt“, sagte er zuvor unter Applaus. Und danach fügte er, auch wenn dies ja „ein Konzert, keine Vorlesung“sei sollte, hinzu: „Eine Völkerwand­erung kann man nicht mit Mauern aufhalten. Wir müssen den Leuten vor Ort helfen.“Denn bislang hätte Afrika nie eine Chance gehabt.

Einhundert Minuten lang war dies vor allem ein, wenn auch lebendiges Sitzkonzer­t. Dann, bei „Nemm mich met“, stand die Halle erstmals. Und dann immer wieder. Und sang. Und tanzte. Und feierte: grenzenlos.

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Wolfgang Niedecken mit Band in der Erfurter Thüringenh­alle. Foto: Holger John

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