Thüringer Allgemeine (Arnstadt)
Herr Sloterdijk und die Terroristen
Im moderierten Ettersburger Selbstgespräch sinniert der Philosoph über die Gesellschaft und ihre Ängste
Ettersburg. In der Halle eines St. Petersburger Hotels liest Peter Sloterdijk am sehr späten 19. April 2013, einer der Brüder, die vier Tage zuvor selbst gebastelte Sprengsätze auf dem Boston-Marathon zündeten, sei jetzt gefasst worden (der andere starb beim Schusswechsel mit der Polizei).
Sloterdijk notiert in dieser Nacht: „Wie üblich kam es auch diesmal zur perversen Überbelohnung einer marginalen Untat durch Medienaufmerksamkeit ohne Grenzen.“Und er schreibt von einer „Komplizenrolle im Terror-Eskalationsgeschäft“, die Berichterstatter einnähmen.
Diese ja nicht ganz von der Hand zu weisende Medienkritik entwickelt und erneuert der Philosoph seit vielen Jahren. Vom Anschlag aufs New Yorker World Trade Center wollte er allenfalls „auf der sechsten oder achten Seite einer Zeitung lesen und nicht auf der ersten“, sagte er 2002 in seiner Fernsehsendung „Philosophisches Quartett“; dergleichen verstand er sehr ernsthaft als „punktuelles, lokales Ereignis“. Man versteht den Punkt wohl etwas besser im Kontext: Denn diese Sendung fand in Anbetracht beziehungsweise in Vorbereitung auf jene Kriege statt, die die USA in der Folge anzettelten.
Sloterdijk hält die Reaktionen auch auf das Massaker auf der Insel Utøya, auf Anschläge in Paris oder Berlin für „disproportional“. Dergleichen ergebe sich aus einer Fehlfunktion unseres Mediensystems, sagt er am vergangenen Sonntagnachmittag auf Schloss Ettersburg: Je scheußlicher eine Tat, umso höher sei deren „Belohnung durch Mobilisierung von Aufmerksamkeit.“An dieser Stelle gibt er die Verantwortung mal nicht ab, indem er formuliert: „Das ist eine Verlegenheit, aus der wir bisher nicht richtig herauskommen.“ Wir! Nicht: Wir, die Medien. Sondern: Wir, die Gesellschaft. Dann aber sagt er wieder: „Die einzige Waffe, die Unaufmerksamkeit, steht uns nicht zur Verfügung, solange unsere Medien beim Terror mitmachen.“
Wenn man aber weiß, dass Sloterdijk unter Terror auch sexuelle Übergriffe wie jene in der Kölner Silvesternacht 2015 versteht, würde das Dilemma klar: Hier galt Medienkritik dem vorläufigen Verschweigen eines Ereignisses – als punktuelles, lokales.
Der Nachrichtenstrom jedenfalls ist eine der wichtigen Quellen, aus denen sich fast täglich Notizen des Peter Sloterdijk speisen. Solche, die er in den Jahren 2011 bis 2013 aufschrieb, erschienen soeben im Band „Neue Zeilen und Tage“; ein Vorgängerband umfasst solche seit 2008.
Gedanken und Kommentare zum auch über den Tag hinaus relevanten Weltgeschehen formuliert er, vor unglaublich gebildetem Horizont, prägnant und pointiert. Sie entspringen eigenständigem Denken, dem man nur, das ist ein Manko, beim Lesen leider nicht zuschauen kann. Dafür sind sie zu konsistent. Sloterdijk widerspricht sich hier nicht (mehr).
Widerspruchsgeist hat er auch nicht an seiner Seite, als sein Buch ein „Ettersburger Gespräch“veranlasst. Der nicht minder belesene Manfred Osten (80) bedankt sich artig für weitschweifige Ausführungen Sloterdijks (71) und dafür, „was wir gelernt haben“. Nicht nur still, in Ratlosigkeit nahezu verstummt folgt das Publikum dem Raunen des Philosophen, der nicht den Denker auf der Bühne gibt, um den Titel seines berühmten Nietzsche-Bändchens zu zitieren, sondern Gedanken rekapituliert. Dieses Raunen wird mehr durch zeitweiliges tontechnisches Rauschen konterkariert als durch ein paar Fragen, die Osten im Ettersburger Selbstgespräch unterbringt.
Das kreist, in einem Kern, um Phobokratie: Herrschaft durch Angst und/oder Schrecken. Monarchien stellten sie demnach positiver Verführung durch „Majestätszauber“, zwecks notwendiger „Disziplinierung von Großbevölkerungen“.
Auch heute scheint es ein „phobokratisches Minimum“zu brauchen, um Gesellschaften zu regulieren. „Wenn es den Terror nicht gäbe, müssten wir ihn geradezu erfinden“, ätzt Sloterdijk daher – kann sich aber vorstellen, dass die „Schwelle zur phobokratischen Regulierung abgesenkt wird, dass die Bedrohungsatmosphäre zunimmt“, wenn Mehrheiten „verlangen, die Person zu verjagen, die das Kanzleramt inne hat.“
Das ist bekanntlich Angela Merkel, „die Große Mutter der Entpolitisierung“, wie er 2011 notiert. Für die Einladung der Welt nach Europa könne sie nichts, sagt er in Ettersburg. Die sei indirekt verschickt worden, jahrzehntelang: Radio und Fernsehen predigten, in Nachfolge der Missionare, westlichen Lebensstandard, „der eine unwiderstehliche Wirkung hat“. Kein Politiker habe unmittelbaren Einfluss darauf.
Zur Grenzöffnung 2015 gab’s laut Sloterdijk auch „keine wirklich praktikable Alternative, weil die Leute ja schon an der Grenze standen. Aber es hätte in den Jahren zuvor eine systematische Außenpolitik geben müssen, die die Tätigkeit der Verführer, der Schlepper, der falschen Berater hätte schwerer machen müssen.“
Sloterdijk sieht hierzulande„eine gewisse Naivität gegenüber dem Ansinnen der Einwanderung.“Eine Änderung der Asylrechtszusage im Grundgesetz sei erforderlich, „weil wir im Augenblick die Sortierung der verschiedenen Wanderkategorien noch nicht wirklich meistern.“
Eine Schutzpflicht bestehe gegenüber Nichtbürgern gewiss weiterhin, findet Sloterdijk. Die Väter des Grundgesetzes hätten allerdings den Asylgedanken aufgrund des Staatsterrorismus im 20. Jahrhunderts in West und Ost formuliert – und „ein Immunsystem um den Einzelnen herum“gebaut, im Sinne der Menschenrechte. Unsere Aufnahmesituation müssten wir durchaus unter Stress setzen können, „nicht aber mit dem Gefühl einer unlösbaren Aufgabe überfordern“.
Prägnante Notizen versus weitschweifige Äußerungen