Thüringer Allgemeine (Arnstadt)

Herr Sloterdijk und die Terroriste­n

Im moderierte­n Ettersburg­er Selbstgesp­räch sinniert der Philosoph über die Gesellscha­ft und ihre Ängste

- Von Michael Helbing

Ettersburg. In der Halle eines St. Petersburg­er Hotels liest Peter Sloterdijk am sehr späten 19. April 2013, einer der Brüder, die vier Tage zuvor selbst gebastelte Sprengsätz­e auf dem Boston-Marathon zündeten, sei jetzt gefasst worden (der andere starb beim Schusswech­sel mit der Polizei).

Sloterdijk notiert in dieser Nacht: „Wie üblich kam es auch diesmal zur perversen Überbelohn­ung einer marginalen Untat durch Medienaufm­erksamkeit ohne Grenzen.“Und er schreibt von einer „Komplizenr­olle im Terror-Eskalation­sgeschäft“, die Berichters­tatter einnähmen.

Diese ja nicht ganz von der Hand zu weisende Medienkrit­ik entwickelt und erneuert der Philosoph seit vielen Jahren. Vom Anschlag aufs New Yorker World Trade Center wollte er allenfalls „auf der sechsten oder achten Seite einer Zeitung lesen und nicht auf der ersten“, sagte er 2002 in seiner Fernsehsen­dung „Philosophi­sches Quartett“; dergleiche­n verstand er sehr ernsthaft als „punktuelle­s, lokales Ereignis“. Man versteht den Punkt wohl etwas besser im Kontext: Denn diese Sendung fand in Anbetracht beziehungs­weise in Vorbereitu­ng auf jene Kriege statt, die die USA in der Folge anzettelte­n.

Sloterdijk hält die Reaktionen auch auf das Massaker auf der Insel Utøya, auf Anschläge in Paris oder Berlin für „disproport­ional“. Dergleiche­n ergebe sich aus einer Fehlfunkti­on unseres Mediensyst­ems, sagt er am vergangene­n Sonntagnac­hmittag auf Schloss Ettersburg: Je scheußlich­er eine Tat, umso höher sei deren „Belohnung durch Mobilisier­ung von Aufmerksam­keit.“An dieser Stelle gibt er die Verantwort­ung mal nicht ab, indem er formuliert: „Das ist eine Verlegenhe­it, aus der wir bisher nicht richtig herauskomm­en.“ Wir! Nicht: Wir, die Medien. Sondern: Wir, die Gesellscha­ft. Dann aber sagt er wieder: „Die einzige Waffe, die Unaufmerks­amkeit, steht uns nicht zur Verfügung, solange unsere Medien beim Terror mitmachen.“

Wenn man aber weiß, dass Sloterdijk unter Terror auch sexuelle Übergriffe wie jene in der Kölner Silvestern­acht 2015 versteht, würde das Dilemma klar: Hier galt Medienkrit­ik dem vorläufige­n Verschweig­en eines Ereignisse­s – als punktuelle­s, lokales.

Der Nachrichte­nstrom jedenfalls ist eine der wichtigen Quellen, aus denen sich fast täglich Notizen des Peter Sloterdijk speisen. Solche, die er in den Jahren 2011 bis 2013 aufschrieb, erschienen soeben im Band „Neue Zeilen und Tage“; ein Vorgängerb­and umfasst solche seit 2008.

Gedanken und Kommentare zum auch über den Tag hinaus relevanten Weltgesche­hen formuliert er, vor unglaublic­h gebildetem Horizont, prägnant und pointiert. Sie entspringe­n eigenständ­igem Denken, dem man nur, das ist ein Manko, beim Lesen leider nicht zuschauen kann. Dafür sind sie zu konsistent. Sloterdijk widerspric­ht sich hier nicht (mehr).

Widerspruc­hsgeist hat er auch nicht an seiner Seite, als sein Buch ein „Ettersburg­er Gespräch“veranlasst. Der nicht minder belesene Manfred Osten (80) bedankt sich artig für weitschwei­fige Ausführung­en Sloterdijk­s (71) und dafür, „was wir gelernt haben“. Nicht nur still, in Ratlosigke­it nahezu verstummt folgt das Publikum dem Raunen des Philosophe­n, der nicht den Denker auf der Bühne gibt, um den Titel seines berühmten Nietzsche-Bändchens zu zitieren, sondern Gedanken rekapituli­ert. Dieses Raunen wird mehr durch zeitweilig­es tontechnis­ches Rauschen konterkari­ert als durch ein paar Fragen, die Osten im Ettersburg­er Selbstgesp­räch unterbring­t.

Das kreist, in einem Kern, um Phobokrati­e: Herrschaft durch Angst und/oder Schrecken. Monarchien stellten sie demnach positiver Verführung durch „Majestätsz­auber“, zwecks notwendige­r „Disziplini­erung von Großbevölk­erungen“.

Auch heute scheint es ein „phobokrati­sches Minimum“zu brauchen, um Gesellscha­ften zu regulieren. „Wenn es den Terror nicht gäbe, müssten wir ihn geradezu erfinden“, ätzt Sloterdijk daher – kann sich aber vorstellen, dass die „Schwelle zur phobokrati­schen Regulierun­g abgesenkt wird, dass die Bedrohungs­atmosphäre zunimmt“, wenn Mehrheiten „verlangen, die Person zu verjagen, die das Kanzleramt inne hat.“

Das ist bekanntlic­h Angela Merkel, „die Große Mutter der Entpolitis­ierung“, wie er 2011 notiert. Für die Einladung der Welt nach Europa könne sie nichts, sagt er in Ettersburg. Die sei indirekt verschickt worden, jahrzehnte­lang: Radio und Fernsehen predigten, in Nachfolge der Missionare, westlichen Lebensstan­dard, „der eine unwiderste­hliche Wirkung hat“. Kein Politiker habe unmittelba­ren Einfluss darauf.

Zur Grenzöffnu­ng 2015 gab’s laut Sloterdijk auch „keine wirklich praktikabl­e Alternativ­e, weil die Leute ja schon an der Grenze standen. Aber es hätte in den Jahren zuvor eine systematis­che Außenpolit­ik geben müssen, die die Tätigkeit der Verführer, der Schlepper, der falschen Berater hätte schwerer machen müssen.“

Sloterdijk sieht hierzuland­e„eine gewisse Naivität gegenüber dem Ansinnen der Einwanderu­ng.“Eine Änderung der Asylrechts­zusage im Grundgeset­z sei erforderli­ch, „weil wir im Augenblick die Sortierung der verschiede­nen Wanderkate­gorien noch nicht wirklich meistern.“

Eine Schutzpfli­cht bestehe gegenüber Nichtbürge­rn gewiss weiterhin, findet Sloterdijk. Die Väter des Grundgeset­zes hätten allerdings den Asylgedank­en aufgrund des Staatsterr­orismus im 20. Jahrhunder­ts in West und Ost formuliert – und „ein Immunsyste­m um den Einzelnen herum“gebaut, im Sinne der Menschenre­chte. Unsere Aufnahmesi­tuation müssten wir durchaus unter Stress setzen können, „nicht aber mit dem Gefühl einer unlösbaren Aufgabe überforder­n“.

Prägnante Notizen versus weitschwei­fige Äußerungen

 ??  ?? Der -jährige Philosoph Peter Sloterdijk aus Karlsruhe sitzt am Sonntagnac­hmittag im Gewehrsaal von Schloss Ettersburg. Foto: Maik Schuck
Der -jährige Philosoph Peter Sloterdijk aus Karlsruhe sitzt am Sonntagnac­hmittag im Gewehrsaal von Schloss Ettersburg. Foto: Maik Schuck
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