Thüringer Allgemeine (Arnstadt)
Zwei sind noch immer unbekannt
30 Jahre ist sie her, die „Friedliche Revolution“, drei Jahrzehnte mittlerweile liegt in diesem Jahr der „Herbst 89“zurück, die Zeit des großen „Umbruchs“. Das sind Begriffe, mit denen Barbara und Matthias Sengewald gut leben können, nicht nur im aktuellen Jubiläumsjahr. Nur ungern sprechen beide rückblickend von der „Wende“.
Zu passiv ist ihnen der Ausdruck, für diese besondere Zeit, in der die Menschen ihr Schicksal aktiv in die Hand nahmen, die Stasi besetzten, die Diktatur überwanden und aufbrachen, ihre Geschicke selbst zu bestimmen. Und ausgerechnet Egon Krenz führte den Begriff „Wende“ein – ein SED-Politiker alter Schule als Namensgeber für eine Phase, in der sich Menschen aus den Fesseln der Angst befreiten? Das passt für Sengewalds so wenig zusammen wie für viele andere ehemalige DDR-Bürgerrechtler.
Barbara Sengewald hat mit anderen die „Gesellschaft für Zeitgeschichte“gegründet, 1999 war das, zehn Jahre nach der „Friedlichen Revolution“. Gründungsmitglieder des ehemaligen Erfurter Bürgerkomitees haben sich dafür zusammengefunden und vorgenommen, weiterhin politisch aktiv zu bleiben. „Wir wollen uns aber nicht auf den Erinnerungen ausruhen, sondern daraus schöpfen“, sagt Barbara Sengewald. Es gehe darum, Demokratie zu gestalten und um Demokratie zu kämpfen. Damals, aber auch heute: „Wir müssen uns einmischen“, sagt Matthias Sengewald.
Sein Lieblingsfoto ist eines das bei den ersten Leipziger Demonstrationen aufgenommen wurde. Es zeigt ein Plakat mit der Aufschrift „Für ein offenes Land mit freien Menschen“. Ein Ziel, das heute genauso wieder verteidigt werden müsse.
Vieles finde statt in Erfurt, was sich im Jubiläumsjahr der Erinnerung an 1989 und der Zeit davor widme. Nicht zuletzt in der Gedenk- und Bildungsstätte Andreasstraße, in der es in drei Etagen um Haft, DDR-Alltag und die Friedliche Revolution geht. Schulklassen etwa würden die Etagen genau in dieser Reihenfolge besuchen. „Angesichts der Fülle der Informationen schwindet die Aufmerksamkeit für die letzte Etage leider oft ein wenig“, bedauert Barbara Sengewald. So werde DDR hauptsächlich mit Diktatur und Stasi-Knast verknüpft: „Es geht zu viel um Repression, zu wenig um deren Überwindung“, findet sie. Dabei ist gerade diese Ausstellungsabteilung so einmalig in Deutschland und lohne daher besonders den Besuch und die Beschäftigung damit. „Es ist ein Teil, auf den man stolz sein kann, aus dem man viel mehr lernen kann“, sagt Barbara Sengewald. Beispielsweise zum Thema Zivilcourage.
Vieles an Dokumenten haben Sengewalds für die „Gesellschaft für Zeitgeschichte“gesammelt, ihr Wohnhaus in der Erfurter Altstadt ist gleichzeitig der Sitz des Vereins. Die Zeitzeugen sind ungezählt, mit denen Interviews geführt wurden, die Zeittafeln und Informationen sind reichlich auf der Internetseite der Gesellschaft für Zeitgeschichte zu finden.
Die Zahl der Zeitzeugen, die die „Friedliche Revolution“miterlebt haben, wird indes kleiner. Die Älteren sterben. Und dennoch melden sich auch heute noch Menschen bei den Sengewalds – „mit Details, mit kleinen Sachen“, wie er sagt. Matthias Sengewald (63) ist Jugendreferent der evangelischen Kirche, seine Frau Barbara (65, geborene Weißhuhn) ist als Betriebswirtin in Rente und ebenfalls in der Kirche und Flüchtlingshilfe sehr aktiv – das Archiv für Zeitgeschichte nimmt beide zeitlich stark in Anspruch.
Zuletzt erst meldete sich einer derWachsoldatenbeiihnen,die in der Andreasstraße am 4. Dezember 1989 Dienst hatten, als die Stasi die ersten zehn Bürger ins Gebäude ließ. Bürgerrechtler und Kirchenvertreter waren darunter, aber auch ein Inoffizieller Mitarbeiter (IM) der Stasi, eigens angefordert, die Bürgerrechtler zu begleiten und herauszufinden, wer die treibende Kraft hinter ihnen sei.
So verrückt es klingt, es bleibt auch 30 Jahre danach ein unvollständiges Geschichtskapitel: Zwei derer, die damals mit der zehnköpfigen Gruppe den ersten Einlass bei der Stasi erhielten, sind bis heute namentlich unbekannt geblieben. Je länger die Zeit zurückliegt, je verschwommener werden die Erinnerungen mancher, wissen Matthias und Barbara Sengewald. Dass sich Aussagen auch aus Zeitzeugeninterviews widersprechen, sei dabei nicht verwunderlich: „Jeder hat seine individuelle Erinnerung“, wissen beide. Unschärfen sind dabei so persönlich wie zwangsläufig. Eine Toleranz, die Sengewalds bei Bewertungen, nicht aber bei den Fakten durchgehen lassen. Wissentliche Übertreibungen und unpräzise Formulierungen sind ihnen ein Gräuel: „Es geht doch nicht, dass man persönliche Wahrnehmungen als Tatsachen, als ein ‚das war so‘ hinstellt. Schließlich ist es unsere Geschichte!“, sagt Matthias Sengewald. Es gibt weitere Lücken, die es zu schließen gilt: Hauptamtliche Stasi-Mitarbeiter könnten dazu beitragen, wenn sie Einblicke geben würden in ihre Arbeit. Manche Information treten neu zutage, wenn Akten in der Stasi-Unterlagenbehörde auf dem Petersberg studiert oder, weil einst zerrissen und in Säcke gestopft, überhaupt erst lesbar gemacht werden. Aber auch die Geschichte von damals in Erfurt aktiven Frauengruppen müsste erzählt werden, sagt Barbara Sengewald. Auch der Teil, warum sie nach dem Herbst 1989 so rasch auseinandergefallen sind.
Fotos aus Erfurt in jenen Tagen sind willkommen im Archiv der „Gesellschaft für Zeitgeschichte“, um die Unterlagen zu vervollständigen. Aber auch persönliche Unterlagen, Aufzeichnungen und andere Akten, die leider heute zu oft im Müll landeten. „Nicht wegwerfen, das sind Zeitdokumente!“, appellieren beide an die Besitzer, diese vorher wenigstens einer Prüfung unterziehen zu lassen.
Eines wird Barbara und Matthias Sengewald rückblickend deutlich: Wer damals, vor 30 Jahren, mit Herz und Hand für Veränderungen in diesem Land eingetretenist,deristauchheute noch bei aktuellen Themen aktiv und bringt sich ein, wenn es um Flüchtlinge oder Umweltschutz geht.
„Es ist eine Haltung: die hat man und legt sie nicht ab“, sagt Matthias Sengewald. Seine Frau Barbara nickt zustimmend.