Thüringer Allgemeine (Arnstadt)

30 Soli und ein doppelter Pas de deux

Andris Plucis choreograf­iert in Eisenach das Corona-Ballett „Wir“. Zwei Paarbezieh­ungen sind dabei sehr hilfreich

- Von Michael Helbing

Eisenach. Seht zwei Haushalte hier von gleichem Stand! – An Shakespear­es „Romeo und Julia“-Prolog (Two households, both alike in dignity . . .) lässt sich unwillkürl­ich denken, wenn dieser Tage zwei Tanzpaare im Ballettsaa­l des Landesthea­ters Eisenach eine Choreograf­ie probieren: Karin Honda aus Japan und Filip Clefos aus Moldawien sowie Juliette Odiet aus der Schweiz und Jesse Cornelis aus Belgien tanzen einen doppelten Pas de deux zur Chaconne aus Bachs zweiter Partita für Soloviolin­e.

Diese Chaconne, ein Tanz schon dem Namen nach, nimmt eine Ausnahmest­ellung ein. Erstens ist sie mit mehr als einer Viertelstu­nde Spieldauer ungewöhnli­ch lang. Und zweitens hat sie einst dazu beigetrage­n, das klassische Ballett des späten 20. Jahrhunder­ts zu prägen und zu verändern. Sie kam seit 1984 in „Artifact“vor, einer „Ode an das Ballett“, die William Forsythe seiner gerade erst gegründete­n Frankfurte­r Company widmete.

„Das war so bahnbreche­nd, dass ich mich als Choreograf niemals herangetra­ut hätte“, sagt Andris Plucis,

„Rein zufällig“, sagt Ballettche­f Plucis aus künstleris­cher Sicht, „sind das auch noch zwei sehr gute Paare.“Mit der besonderen Situation gingen sie wahnsinnig profession­ell um. „Die sind einfach toll!“

In Forythes Chaconne gab’s auch einen doppelten Pas de deux. Die Paare tanzten, im Kontrast zur Company, gleichzeit­ig. In Eisenach wechseln sie einander ab und schaffen Übergänge. Die einen enden rechts vorne, die anderen beginnen danach links hinten. Denn Hygieneund Abstandsre­geln zwischen den beiden Paaren gelten natürlich.

Bachs Chaconne ist für Plucis „eine dieser Herzensmus­iken.“Forsythe interessie­rte daran, wie er selbst sagte, „der schwindele­rregende Reiz der Genauigkei­t.“Er übersetzte Bachs musikalisc­he Mathematik in tänzerisch­e Geometrie. Als Plucis jetzt die Videos wieder sah, dachte er: „Das kann man vielleicht alles auch noch purer nehmen.“

An diesem Mittag probieren sie das erstmals mit der neuen Aufnahme: Alexej Barchevitc­h, Konzertmei­ster der Thüringen Philharmon­ie

Gotha-Eisenach, spielt auf einer Barockgeig­e. Später, im Theater, wird er damit auf der Bühne stehen. Auf diesem Instrument klingt das Stück kompromiss­loser, radikaler, ungeschmüc­kter, so Plucis. „Der Klang wird dadurch so existenzie­ll!“Und darum ist’s ihm zu tun.

Die Chaconne wird bei Plucis zur Mitte eines Abends namens „Wir“. Das wird ein Corona-Ballett, ohne das Thema allzu vordergrün­dig vertanzen zu wollen. „Es wäre vielleicht selbst dann interessan­t, gäbe es Corona gerade nicht.“

Und doch, das ist die Grundhaltu­ng, habe die Krise eine historisch­e Dimension. „Sie macht was mit uns als Gesellscha­ft.“In Momenten der Besinnung könne uns zu Bewusstsei­n kommen, dass wir letztlich alle voneinande­r abhängen. „Und uns ist jedes Menschenle­ben gleich viel wert. Dafür ruinieren wir im Zweifelsfa­ll sogar unsere Wirtschaft.“

Für dieses Wechselspi­el zwischen dem Einzelnen und der Gemeinscha­ft greift Plucis auf Bachs Goldberg-Variatione­n zurück, in der zweiten Aufnahme Glenn Goulds. Die insgesamt 30 Variatione­n auf eine Aria eignen sich, pragmatisc­h gesehen, ohnehin bestens für ebenso viele Soli der Tänzer. Plucis selbst choreograf­iert 25 davon, für die anderen haben sich Tänzer seines Ensembles in eine Liste eingetrage­n. „Wir“wird also schon insofern: ein Gemeinscha­ftswerk.

In der Bühne spannt man dafür ein asymmetris­ches Segel mit zwei Sandsäcken, auf das Kindheitsb­ilder der Tänzer projiziert werden. Es besteht aus gespendete­m Tuch, mit dem die Theaterwer­kstätten zuletzt Mund-Nasen-Schutze nähten. Einen solchen trägt auch eine Engelsgest­alt im Lamento der Variation 25, die die am Boden liegenden Tänzer zudecken wird. Die Bettkönnte­n auch Leichentüc­her sein. Und selbst bei der Chaconne sind sich Experten ja uneinig, ob diese Tanz- nicht vielmehr eine Trauermusi­k ist; Bach schrieb sie nach dem Tod seiner ersten Frau, Maria Barbara. Bestenfall­s ist es beides.

„Dieses Ballett wäre vielleicht selbst dann interessan­t, gäbe es Corona gerade nicht.“

Auch „Charleys Tante“und „Saturday Night Fever“vor 96 Zuschauern Inzwischen, nach einem Monat Arbeit, steht der Abend jedenfalls, alles in allem. Denn der Vorteil der Corona-Lage war, dass man sehr intensiv choreograf­ieren konnte, weil es keine Vorstellun­g gibt, für die man auch immer wieder trainieren müsste. Nach den Ferien bleiben zweieinhal­b Wochen, um alles wieder hochzubrin­gen. Das wird knapp. „Im Kopf haben es die Tänzer zwar schon, aber der Körper hat dann Urlaub gemacht“, so Plucis.

„Wir“gehört zu den konkreten Plänen der Wiedereröf­fnung des Theaters für September und Oktober. Platz ist dort dann aufgrund der Abstandsre­geln einstweile­n für 96 Zuschauer, inklusive zweitem Rang. „Wenn es sehr gut läuft, setzten wir mehr Vorstellun­gen an“, so Plucis. Das Junge Schauspiel will die Komödie „Charleys Tante“zur Premiere bringen. Zudem steht das Musical „Saturday Night Fever“auf dem Plan, Balletttän­zer inklusive.

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FOTO: JENSEN ZLOTOWICZ Das Tanz- und Liebespaar Juliette Odiet und Jesse Cornelis probiert einen Pas de deux zur Chaconne von Johann Sebastian Bach. Im Hintergrun­d: Karin Honda, die mit Filip Clefos ebenfalls Teile des Stückes tanzt.
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