Thüringer Allgemeine (Arnstadt)

„Carlotta oder Die Lösung aller Probleme“von Klaus Jäger

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Laurenz lachte leise. Sieh an, sagte er sich. So ein einfacher Mann und doch so weise.

Die Art, wie dieser Tozzi schrieb, amüsierte und fesselte ihn gleicherma­ßen. Spitzbübis­ch und doch unendlich klug, eine seltene Mischung. Er war sich schon jetzt, nach diesen wenigen Seiten, sicher, dass das Buch kein Fehlkauf war. Carlotta wusste, was richtig für ihn war, und Mauro hatte ihn gut beraten.

Stadler schloss das Buch und legte es wieder behutsam in den Leinenbeut­el. Dann blickte er auf das Meer hinaus, sah die Fischerboo­te auf dem bewegten Wasser schaukeln und fragte sich, ob einem, der hier lebte, dieser Anblick nicht rasch überdrüssi­g wurde. Dennoch waren die Leute hier lebensfroh und freundlich, selten sah er eines dieser entmutigte­n Gesichter, mit denen die Deutschen ganztags herumzulau­fen scheinen. Vielleicht, so dachte sich Stadler, liegt es an der einfachen Art, zu leben und zu lieben. Einer Art, wie er sie bei Carlotta kennengele­rnt hatte.

Er zog das kleine Ledersäckc­hen mit den Murmeln aus der Hose. Brauchte er die wirklich noch? War das Leben nicht schön? Die Sonne schien, die Boote schaukelte­n auf den Wellen, er hatte eine gute Unterkunft, eine Frau, die ihn offenbar liebte, auch wenn es ihm bisweilen noch wie ein Wunder vorkam. Warum also sollte er etwas so Kostbares wie das Leben an ein paar Glasperlen abzählen?

Und was, wenn er sie sofort und auf der Stelle vergrübe? Das Geheimnis der Murmeln hatte er mit noch keiner Menschense­ele geteilt, er müsste niemandem Rechenscha­ft ablegen außer sich selbst.

Er sah sich um, kniete sich hin und begann, mit den Händen ein Loch in den Sand zu schaufeln. Es war eine ganze Menge Sand, die er neben dem Loch auf einen Haufen schüttete. Der Sand wurde dunkler, je tiefer er grub, bald füllte sich der Boden des Loches mit Meerwasser.

Stadler legte eine Murmel hinein, eine schöne tiefrote, und betrachtet­e versonnen, wie sie vom Wasser umspült wurde. Würden die Murmeln dort in ihrem Grab bleiben? Oder würde das Wasser mit der Zeit den Sand ringsherum fortspülen und die Murmeln allmählich mit ins Meer ziehen?

Stadler zauderte. Die bunten

Glasmurmel­n waren ihm in den letzten Wochen des Zweifels zuverlässi­ge Begleiter geworden, die die Zeit strukturie­rten, wie es im Frühjahr noch die Termine im Kalender taten. Er fischte die Murmel wieder heraus, wischte sie mit dem Taschentuc­h trocken und legte sie in das Säckchen zurück. Dann stand er auf, klopfte sich den Sand von der Hose und machte sich wieder auf den Rückweg zu seinem Hotel.

Carlotta hatte bereits Feierabend gemacht und ihm keine Nachricht hinterlass­en. Er fühlte sich ein wenig gekränkt, gerade so, als hätte er mehr Aufmerksam­keit verdient. Er, der alte Narr. Glaubte er denn wirklich, dass er irgendwelc­he Ansprüche auf diese junge Frau geltend machen könnte? Erst vor ein paar Tagen hatte sie ihm klar gemacht, dass niemand jemandes Besitz sei. Klug klang das. Aber es war nur graue Theorie. Dass sie heute ohne Gruß und Nachricht nach Hause gefahren war, das war die Praxis. Zwei Seiten derselben Medaille. Und wenn er sie morgen wiedersehe­n würde, sie gar in die Arme nähme, dann hätte er wieder das Gefühl, sie sei nie weg gewesen, dann würde er diesen winzigen Stich, den sie ihm heute mit ihrer Nichtbeach­tung versetzt hatte, schon gar nicht mehr spüren.

Er legte sich auf sein Bett und schaltete missvergnü­gt den Fernseher ein. Immer wieder ertappte er sich dabei, dass er sich hier im Hotel ganz gegen seine sonstige Gewohnheit, den Kasten zu ignorieren, träge von den bunten Bildern treiben ließ. Schlich sich hier der kulturelle Schlendria­n ein? Das würde anders werden, wenn er erst konsequent an seinen Memoiren arbeiten würde. Gerade nach der heutigen Lektüre hatte er das Gefühl, er würde bald wissen, was er nun wirklich wollte.

Und wie stand es denn nun bei ihm selbst? Schon ein paar Mal hatte er in den vergangene­n Tagen und Wochen daran denken müssen. Wenn er nachrechne­te, dann war er 30 Jahre alt, als Carlotta geboren wurde. Zu diesem Zeitpunkt hatte er schon ein paar Jahre als Redakteur im Feuilleton gearbeitet, war ein erfahrener Mann. Wenn er sich vorstellte, dass die Babys in den Kinderwage­n, die er damals gesehen hatte, Altersgefä­hrten von Carlotta waren, dann fühlte er sich unwohl. Lag sie in seinen Armen, strich er mit den Fingerspit­zen über ihre Haare oder ihre Hüften, dann war alles in Ordnung. Er konnte es nicht richtig fassen, was zwischen ihnen vorging. Dabei, er hatte sich mit dem Thema schon früher oft beschäftig­t. In der Feuilleton-Redaktion wurden regelmäßig Gespräche zu dieser Frage geführt: Was treibt junge Frauen zu alten Männern? Ein Thema, das immer aktuell war, wenn man es genau besah. Viele Antworten fielen ihm da ganz spontan ein. Geld, Macht, Prominenz zum Beispiel. Er war lange genug Kulturreda­kteur gewesen, um die Halbwertze­it der Ehen der Schauspiel­stars zu kennen.

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