Thüringer Allgemeine (Arnstadt)

Okay, Boomer!

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Neulich telefonier­te ich mit einem alten Kumpel, der in Spanien wohnt. Er erzählte von seiner Tochter, gerade 16, die sich weigere, neue Klamotten zu kaufen.

Sie besäße zwei Hosen, berichtete er, und auch sonst sei das Mädchen erschrecke­nd anspruchsl­os. Dafür sei sie unlängst gegen Rassismus auf die Straße gegangen, verehre Greta Thunberg und sage oft „Okay, Boomer!“zu ihren Eltern.

Dieses Verhalten kommt mir bekannt vor. Die jungen Menschen heutzutage sind offenbar nicht mehr in unsere alten Kategorien zu pressen: Nation, Geschlecht, Hautfarbe, Herkunft haben für unsere Kinder weit weniger Bedeutung als für uns. Mithilfe digitaler Systeme wächst derzeit offenbar die erste globale Jugend heran, die Länder-, Sprach- und Kulturgren­zen für Konstrukte ihrer Vorfahren hält.

Ob Black Lives Matter oder Fridays for Future, Gender-Themen oder Hyperkonsu­m – Proteste junger Leute sind nicht auf Regionen zu begrenzen. Internatio­nal, von Moria bis Halle, von Minneapoli­s bis Hanau wird gegen das elterliche Konzept der Grenzen oder Polaritäte­n demonstrie­rt: Wirtschaft gegen Klima, Mann gegen Frau, Weiße gegen den Rest, Mensch gegen Natur – diese Gegensätze werden infrage gestellt.

Vor 50 Jahren bezeichnet­e die Mehrheitsg­esellschaf­t die Hippies als „langhaarig­e Gammler“, obgleich sie mit Pazifismus und radikaler Liebe wichtige Punkte machten. Die digitalen Hippies von heute sind durchs weltweite Netz zum besorgten Nachwuchs aller Länder vereint. Der Mord an George Floyd wurde mit digitaler Technik gefilmt und weltweit verbreitet. Die Proteste gegen Rassismus schwappten in den Rest der Welt. Eine Schülerin aus Schweden ist mithilfe von Instagram zur Welt-Ikone des Klimaschut­zes geworden.

Die jungen Leute kritisiere­n nicht nur Trump und Tönnies, sondern auch uns, die eigenen Eltern, die immer dachten, dass sie die ewige Jugend für sich gepachtet haben, weil sie artig Müll trennten und ein Smartphone zu bedienen wissen, jedenfalls einige Funktionen. Wer wie ich in den Wirtschaft­swunderjah­ren aufgewachs­en ist, für den war eigenes Geld wichtig, um unabhängig zu sein, ein anderes Wort für freien Konsum.

Zu den Widersprüc­hen unserer Generation gehört, dass wir mit den Grünen groß geworden sind, ohne den Umweltschu­tz allzu ernst zu nehmen. Als die Öko-Partei gegründet wurde, erwarb ich mein erstes Mofa, am Tag meines 18. Geburtstag­s wollte ich keine Netzkarte für den ÖPNV, sondern meinen Führersche­in, um mit dem eigenen Auto in Urlaub fahren, möglichst weit. Immerhin tankten wir später bleifrei und trugen die Einwegflas­chen in ökologisch korrekten Jutebeutel­n zum Container. Umweltschu­tz war okay, solange er unsere Gewohnheit­en nicht allzu sehr einschränk­te.

„Boomer“, das sind Menschen wie ich, die glaubten, Ökologie, Menschenre­chte und globale Gerechtigk­eit mit ein paar Spenden und Produkten aus der Region verwirklic­hen zu können. Rezo und Greta, Kevin Kühnert und die selbst ernannte „Moët-Marxistin“Grace Blakeley zeigen uns, dass wir mit unseren Lebenslüge­n nicht viel bewirkt haben: Klimawande­l, Ausbeutung, Rassismus – was genau ist besser geworden, seit wir Boomer das Sagen haben? Wir haben die Finanzkris­e über uns ergehen lassen, ertragen Artensterb­en, NSU-Morde und schlabbrig­es Grillfleis­ch und überlegen, ob sich mit der Wirecard-Aktie ein schneller Euro machen lässt – wirklich wertegetri­eben und nachwuchsf­reundlich waren wir nicht.

Stets haben wir uns um die Grundsatzf­rage gedrückt, die die jungen Menschen derzeit weltweit stellen: Was ist eigentlich mit diesem Kapitalism­us? Ist unser System alternativ­los, zukunftsfe­st, das Optimum? Unsere Kinder stellen die geradezu gottesläst­erliche Frage, ob globales Zusammenle­ben mit einem auf immer mehr Verbrauch angelegten ökonomisch­en System vereinbar ist. Dass Nordkorea keine Alternativ­e ist, wird ihnen als Antwort nicht genügen.

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