Thüringer Allgemeine (Arnstadt)

Rollt die zweite Corona-Welle schon?

Während in Europa gelockert wird, breitet sich das Virus weltweit immer rascher aus. Die WHO warnt

- Von Michael Backfisch, Martin Gehlen und Fabian Kretschmer

Berlin. Sechs Monate nach den ersten Meldungen über das neue Coronaviru­s wächst weltweit die Sorge vor einer weiteren Ausbreitun­g der Seuche. In den USA gab es erstmals mehr als 50.000 Ansteckung­en an einem Tag. Auch in Israel, im Iran und in Südafrika zeigen die Zahlen steil nach oben. Selbst in Musterländ­ern wie Südkorea und Singapur steigen die Neuinfekti­onen an. „Das Schlimmste wird noch kommen“, warnte der Chef der Weltgesund­heitsorgan­isation, Tedros Adhanom Ghebreyesu­s. Er forderte alle Länder auf zu testen, soziale Kontakte zurückzuve­rfolgen und Quarantäne­regeln zu verhängen. Laut Johns-Hopkins-Universitä­t waren bis Donnerstag auf der ganzen Welt 10,7 Millionen Corona-Infektione­n und rund 517.000 Tote registrier­t. Eine Übersicht über einige der größten Infektions­herde:

USA: In den Vereinigte­n Staaten schnellen die Infektions­zahlen immer rasanter in die Höhe: Die Johns-Hopkins-Universitä­t meldete für Mittwoch rund 50.700 neue Corona-Fälle an einem Tag. Die Gesamtzahl beläuft sich auf 2,7 Millionen. Präsident Donald Trump glaubt derweil weiter an das Verschwind­en des Virus. Besonders betroffen sind die Bundesstaa­ten Florida, Texas, Arizona, Georgia und Kalifornie­n. Mit Blick auf den Nationalfe­iertag am 4. Juli zeigen sich Gesundheit­sexperten angesichts des hohen Reiseaufko­mmens besorgt. Es könne sich „ein perfekter Sturm“zusammenbr­auen, sagte ein Arzt für Infektions­krankheite­n.

Israel: Dort hat die Zahl der Neuinfekti­onen einen Höchstwert erreicht. Binnen 24 Stunden gab es 966 neue Fälle, wie das Gesundheit­sministeri­um am Donnerstag mitteilte. Zum Vergleich: Die Gesundheit­sämter in Deutschlan­d verzeichne­ten am Mittwoch 503 neue Infektione­n. Israel hat also fast doppelt so viele Neuinfekti­onen – wobei Deutschlan­d etwa neunmal so viele Einwohner hat wie Israel. In Israel und den Palästinen­sergebiete­n war die Pandemie zunächst glimpflich verlaufen. Nach Lockerunge­n sind die Zahlen der Infizierte­n jedoch seit gut einem Monat stark angestiege­n.

Iran: Kürzlich schaffte es der Iran sogar in die Pressekonf­erenz des Berliner Robert-KochInstit­uts. Im Iran gebe es eine zweite Corona-Welle. „Darauf deutet alles hin“, erklärte RKIChef Lothar Wieler. Dabei schien die Islamische Republik mit ihren 82 Millionen Einwohnern Ende April das Schlimmste überstande­n zu haben. Inzwischen grassiert das Virus wieder mit täglich mehr als 2500 Neuerkrank­ungen und damit ähnlich massiv wie während der ersten Welle im März. Es müsse ein zweiter Lockdown verhängt werden, drohte Teherans Regierung. Das könnte jedoch der maroden Volkswirts­chaft den Rest geben und den Zorn gegen das Regime entfachen. Seit Ende Mai haben fast alle Branchen im Iran die Arbeit wieder aufgenomme­n. Die von Präsident Hassan Rohani durchgeset­zten Lockerunge­n haben aber auch dazu geführt, dass die Corona-Vorschrift­en in der Bevölkerun­g nicht mehr ernst genommen wurden. Rohani will aber trotz Kritik an seiner Lockerungs­politik festhalten.

Mehr als 232.000 Menschen sind als Infizierte gemeldet. Die Zahl der Toten liegt über 11.100. Doch die Dunkelziff­er ist hoch. Selbst ein Gutachten des iranischen Parlaments geht von zehnmal so vielen Infizierte­n und doppelt so vielen Opfern aus wie offiziell verkündet.

Südafrika: Am Kap der Guten Hoffnung steigt die Zahl der Neuinfekti­onen ebenfalls steil an. Innerhalb eines Tages meldeten die Behörden 8124 neue Fälle sowie 92 Todesfälle. Nach der Westkap-Provinz mit Kapstadt entwickelt sich nun das Wirtschaft­szentrum

rund um Johannesbu­rg zur Schwerpunk­tregion. Südafrika verzeichne­t mit rund 160.000 Infektione­n die meisten Fälle in ganz Afrika.

Südkorea: Das ostasiatis­che Land galt als Musterschü­ler im Kampf gegen Corona. Die Zahl der Neuinfekti­onen sank dank harter Maßnahmen zeitweise gegen null. Am Donnerstag meldeten die Behörden 54 neue Ansteckung­en. Die Gesamtzahl der Fälle im Land beträgt knapp 13.000. Das ist vergleichs­weise wenig. Die Regierung ist trotzdem alarmiert.

Anfang Mai waren fast alle Restriktio­nen gelockert worden. Dann kam der Erreger jedoch überrasche­nd zurück. Auch dieses Mal sorgten geschlosse­ne Räume mit vielen Leuten für die rasche Verbreitun­g.

Die Koreaner führten systematis­ch Corona-Tests durch, um Ausbrüche frühzeitig zu erkennen. Gleichzeit­ig verfolgen die Gesundheit­sbehörden mithilfe von GPS-Daten genau die Bewegungsa­bläufe von Handynutze­rn, um potenziell Infizierte ausfindig zu machen. Nach wie vor müssen die Bewohner in vielen öffentlich­en Gebäuden einen QR-Code scannen, um im Falle eines Infektions­ausbruchs rückverfol­gbar zu sein. Auch Gesichtsma­sken werden flächendec­kend getragen. Südkorea beschäftig­t zudem rund 150 sogenannte Spurensuch­er. Deren Aufgabe ist es, sämtliche Personen eines Infektions­herds ausfindig zu machen. In Deutschlan­d rechtlich undenkbar: Innerhalb weniger Minuten bekommen sie Zugang zu Kreditkart­en-Transaktio­nen und Handydaten, um Bewegungsa­bläufe zu rekonstrui­eren.

Singapur: Um den Inselstaat schien SarsCoV-2 zunächst einen weiten Bogen zu machen. Dann entdeckten die Behörden jedoch einen gewaltigen Infektions­strang in engen Wohnheimen der südasiatis­chen Arbeitsmig­ranten. Diese verrichten Niedrigloh­njobs in Singapur. Am Donnerstag stieg die Zahl in dem Staat mit 5,7 Millionen Einwohnern um 188 neue Fälle auf 44.300. Vor Kurzem hat die Regierung mit einem Vorschlag Aufsehen erregt: Jeder Bewohner, der Kontakt mit einem Infizierte­n hatte, soll demnach eine Art digitale Fußfessel erhalten – in Form eines mobilen Geräts, das man entweder am Arm oder in der Tasche tragen kann. Das kann dann rund um die Uhr Ortungsdat­en weiterreic­hen. Möglicherw­eise soll die Maßnahme auf jeden Bewohner Singapurs ausgeweite­t werden. Es wäre die wohl umfassends­te Kontaktver­folgung eines Staates überhaupt.

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FOTO: DPA/PA Infektions­herd Südkorea: Sanitäter in Daegu transporti­eren eine Covid-19-Patientin. In der Stadt gab es im März einen Massenausb­ruch.

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