Thüringer Allgemeine (Arnstadt)
Raus aus dem Netz, rein ins Konzert: Ein Fest analoger Musik
Mit Beethoven eröffnete Martin Stadtfeld die Erfurter Reihe „20ff – twenty fast forward“
Erfurt. Mit schlappen drei Monaten Verspätung, ließe sich salopp sagen, haben am Mittwoch die Thüringer Bachwochen begonnen – und dann auch noch mit Beethoven!
Aber beides hat gute Gründe. Die Bachwochen waren hierzulande die ersten, die sich von der Aussicht auf ein reguläres Festival verabschieden und einem Virus gegenüber zurückstecken mussten. „Als sich abzeichnete, da geht wieder was“, so der künstlerische Leiter Christoph Drescher, gehörten sie wiederum zu den ersten, die davon Gebrauch machten. Gemeinsam mit dem soeben fertig sanierten Kontor Erfurt in einem alten Industrieund Gewerbegebiet sowie mit dem Klub Franz Mehlhose und dem Molsdorfer Kultursommer legten sie die Konzertreihe „20ff – twenty fast forward“auf: 19 Tage alte und klassische Musik sowie Chanson und Pop (wir berichteten).
Und der vor allem mit Bach erfolgreich und populär gewordene Pianist Martin Stadtfeld würdigte nun zum Auftakt also den bevorstehenden 250. Geburtstag Ludwig van Beethovens. Der meinte seinerseits ja, Bach sollte eigentlich Meer heißen, obschon er uns auch selbst einen Ozean der Musik hinterließ. Stadtfeld tauchte tief darin ein, mit Enthusiasmus und Leidenschaft.
Er konnte es gar nicht abwarten. Die einzige gute Erkenntnis aus der Corona-Situation sei, hatte er sein Konzert anmoderiert: „Das Streaming in der Musik funktioniert nicht!“Nun wollte er schnell beginnen, den Beweis anzutreten. Er saß noch nicht richtig auf dem Klavierhocker, schon ließ er dem „Rondo alla Ingharese quasi una Capriccio“seinen wilden Lauf. Dieses soll ja angeblich „Wut über den verlorenen
Groschen“ausdrücken, die auch ein Musiker haben könnte, angesichts entgangener Auftritte der vergangenen Wochen. Doch das hohe Tempo, das Stadtfeld vorlegte – und das ganze Konzert über beibehielt –, war keiner Wut und auch nicht der Ungeduld geschuldet. Und vermutlich auch nicht dem Umstand, dass er ja nur eine Stunde Zeit hatte.
Auf den so schönen, unaufhörlichen und unauflöslichen TempiStreit um Beethoven antwortet er einfach besonders energisch, aber ganz ohne Hektik. Vielmehr weiß er deutliche Akzente zu setzen. Beileibe
rast er nicht durch die Stücke. Er spürt ihnen nach, zieht das Tempo an, lässt wieder nach. Er lässt sie durchsichtig werden und vom Boden abheben. Erst recht in der vollständig gespielten „Appassionata“.
Zum Hygienekonzept der Veranstalter gehört es, neben Abstand und Masken auf dem Weg zum und vom Platz, dass Programmzettel tabu sind. Deshalb moderierte Stadtfeld seinen Auftritt selbst, und zwar so klug und launig, dass er auch das gemeint haben könnte, als er sagte, ein paar Dinge sollte man doch später, nach Corona, beibehalten.
Zwei Drittel der 99 Plätze waren zum Auftakt besetzt; Stadtfeld wiederholte das Konzert rund zwei Stunden später noch einmal. Es gibt noch viele Fragen potenzieller Zuhörer, so Drescher. Einige ältere schrecken auch noch ganz zurück.
Und doch lässt sich im Kontor gut auf- und durchatmen. Stadtfeld spielte vor Marc Jungs schrillem Gemälde „Germania“sowie zwischen Pfeilern, deren jahrealte Graffiti bei der Sanierung konserviert wurden. Optisch wie akustisch ist dieser alternative Konzertort überzeugend.