Thüringer Allgemeine (Arnstadt)
Ein normaler Sommerabend
Wie das Eichsfeld von einem Pandemie-sorgenkind zum Niedriginzidenzlandkreis wurde
Der Weg durch den Barockgarten führt direkt zu einem auffälligen Gebäude. Die Sonne brennt vom Himmel. Das Thermometer zeigt deutlich über 30 Grad an. Auf einer Bank ruhen sich Menschen aus. Der mehr als 200 Jahre alte Bau in der Heiligenstädter Innenstadt zieht vor allem die Blicke der Besucher auf sich. Eichsfelder kennen das Haus als Jesuitenkolleg – und „Eichsfeldmuseum“.
Sieben Monate war es hier still. Jetzt kehrt das Leben nach dem zweiten Corona-lockdown zurück. Im Eingang steht Museumsleiter Torsten W. Müller. Der Desinfektionsspender summt. Schilder bedeuten den Besuchern, dass Maskenpflicht und Abstand halten weiter gelten. Für den Museumschef mittlerweile Alltag. Er ist froh, dass es wieder losgeht. „Wir freuen uns jetzt über jeden Besucher“, sagt er.
Dramatische Lage Heiligabend
Ein paar Hundert Meter weiter, am Rande der Innenstadt, hat Landrat Werner Henning sein Büro bezogen. Ein Provisorium. Der altehrwürdige Sitz im „Mainzer Schloss“auf dem Friedensplatz wird saniert. Henning kann mittlerweile entspannt auf die Corona-lage in seinem Landkreis blicken – vor sechs Monaten sah das anders aus.
Im Coronawinter 2020/2021 gehört der Landkreis Eichsfeld zu den Sorgenkindern in Thüringen. Die Sieben-tage-inzidenz will in den Tagen um Weihnachten nicht aufhören zu steigen. Bei 463 Neuinfektionen in einer Woche auf 100.000 Einwohner gerechnet liegt sie in der Spitze. Das war Heiligabend. 171 positive Testergebnisse werden dem Gesundheitsamt allein an diesem Tag übermittelt. Lange gehört der Landkreis in Nordthüringen zu den Regionen, die beim Robert-kochInstitut mit den höchsten Inzidenzwerten der Republik ausgewiesen werden. Heute ist das anders. Am Freitag teilt das Landratsamt mit, dass die Sieben-tage-inzidenz bei zwei liegt. In absoluten Zahlen heißt das: Aktuell sind neun Personen mit dem Coronavirus infiziert. Seit Beginn der Pandemie haben sich 6216 Personen infiziert.
„Wir waren von Anfang an im Management stark“, sagt Henning (CDU) im Brustton der Überzeugung. Aber warum stiegen die Zahlen so extrem? Der Verwaltungschef hat Ilona Helbing, die Chefin des Gesundheitsamtes, und Amtsärztin Judith Rahrig zum Gespräch gebeten. Die beiden Frauen sind so etwas wie die Managerinnen des Erfolgs, der aber viel mehr Gesichter hat. Rahrig bestätigt: „Wir haben konsequent gehandelt.“Aber was bedeutet das? Im Landkreis Eichsfeld seien von Beginn an Testungen für Kontaktpersonen vorgenommen, die keinerlei Corona-symptome hatten. „Wir haben uns natürlich gefragt, ob wir diese hohen Zahlen damit selbst produzieren“, sagt Judith Rahrig und gibt sich die Antwort selbst: „Wir hatten die hohen Zahlen, weil wir die Fälle hatten.“Die Infektionslage sei, das betont sie, im Eichsfeld nicht anders gewesen als im Rest der Republik.
Mehr Personal im Gesundheitsamt Personell gleicht die Bewältigung der Lage einer Mammutaufgabe. Von 35 auf 80 Mitarbeitende wird das Gesundheitsamt aufgestockt. Insgesamt helfen über die Monate 250 Soldatinnen und Soldaten im Landkreis an verschiedenen Stellen mit – bei der Kontaktnachverfolgung, aber auch in Test- und Impfzentren. Werner Henning ist voll des Lobes für die Bundeswehr und Oberstleutnant Niederau, den Verbindungsoffizier fürs Eichsfeld. Trotz aller Anstrengungen: Bei der Zustellung von Quarantänebescheiden gerät das Gesundheitsamt ins Hintertreffen. Bis zu acht Wochen vergehen im Winter, bis die Betroffenen ihre Bestätigungen über die Quarantäne erhalten. Wichtiger sei aber gewesen, sagt Ilona Helbing, die Kontaktnachverfolgung mit Priorität zu gewährleisten.
Auch im Eichsfeld gibt es sogenannte „Superspreader“-events; also Veranstaltungen, bei denen ein Infizierter viele weitere Personen ansteckt. Mehrere Geburtstagsfeiern, aber auch Beerdigungen, sind dem Gesundheitsamt bekannt. Henning versucht sich in einer Begründung. „Ich stimme der Grundeinschätzung von Ministerpräsident Ramelow zu, dass das Leben im ländlichen Raum höhere Inzidenzzahlen verursacht. Das ist aber kein Grund zu tadeln“, doziert der Landrat in Richtung des Linke-politikers. Die Eichsfelder seien so sozialisiert, dass sie auf dem Dorf zusammenhalten. Henning freut das. So versteht er die Region und ihre Bevölkerung, der er seit mehr als drei Jahrzehnten als Landrat dient.
Knapp 60 Kilometer weiter entlang der Autobahn 38 sitzt Fränze Töpfer in ihrem Büro in der Landespolizeiinspektion Nordhausen. Der Landkreis Eichsfeld gehört zum Zuständigkeitsbereich. Die Zahl der Einsätze sei auch im Eichsfeld deutlich zurückgegangen in den Corona-monaten, führt die Polizeihauptkommissarin aus. Im Winter und beginnenden Frühjahr haben sich ihre Kollegen vor allem mit Anrufern befasst, die Verstöße gegen die Corona-regeln angezeigt haben. Neben dem Eichsfeld sei der Unstrut-hainich-kreis vorn bei denen gewesen, die auf Regelverstöße von anderen hingewiesen haben.
Henning: Stelle nicht hinter jeden Bürger einen Polizisten
Zurück beim Landrat in Heiligenstadt: Der sieht eine Mitverantwortung dafür, dass sich die Situation jetzt entspannt, bei der Bevölkerung. Die sei nicht nur diszipliniert gewesen, sondern habe sich nicht vereinnahmen lassen – weder von denen, die die Maßnahmen befürworten, noch solchen, die sich dagegen auflehnen. „Unsere Bevölkerung denkt so souverän, man muss ihr nicht propagandistisch erklären, was gut und böse ist“, sagt er. Henning lehnt es ab, „hinter jeden Bürger einen Polizisten zu stellen“. Gleichwohl seien Einschnitte notwendig gewesen; eine Ausgangssperre zum Beispiel. Dennoch: Selbst, als die Inzidenzen bundesweit zu den höchsten gehören, bleibt der Landkreis beim Wechselunterricht.
Im Eichsfeldmuseum hofft Torsten W. Müller, dass die Corona-lage entspannt bleibt. Trotz aller Unsicherheiten hat er Pläne für den Herbst. Im November ist eine AnneFrank-ausstellung geplant. Am liebsten mit Besuchern. „Das ist der Beitrag des Eichsfeldes zum jüdischen Themenjahr.“
Die Hoffnung ist groß, dass das möglich wird. Ein Blick auf die Straßen zeigt, dass wieder hinausgegangen wird. In der nahen Wilhelmstraße wird gebaut. Menschen bleiben an der Eisdiele stehen. Es riecht nach Eichsfelder Bratwurst. Ein ganz normaler Sommerabend.