Thüringer Allgemeine (Arnstadt)

Portugal ist kein Team

- Von Kai Schiller und Sebastian Weßling

Es musste schnell gehen, und dann geht es nicht immer gut: Das Spiel war gerade abgepfiffe­n, die deutschen Nationalsp­ieler feierten auf dem Rasen, die 12.926 Zuschauer auf den Rängen den 4:2Sieg gegen Portugal. Das hätte schöne Bilder geben können, und so sprintete ein Kameramann auf das Spielfeld, kam aber nach wenigen Metern ins Straucheln und legte samt seiner Ausrüstung eine spektakulä­re Bauchlandu­ng hin.

Joachim Löw ist kein Mensch, der zur Hektik oder zum Überschwan­g neigt. Lässig stand der Bundestrai­ner auf dem Rasen, das dunkelblau­e Hemd weit aufgeknöpf­t. Und während sich um ihn herum Jubeltraub­en bildeten, die Zuschauer sangen, dass sie einen so schönen Tag lange nicht gesehen hatten, sagte Löw ins Ard-mikro: „Ich habe schon einige solche Spiele erlebt, umhauen tut mich das jetzt auch nicht.“

Warum auch, es war ja nichts weiter passiert. Nur ein hochverdie­nter Sieg gegen den Europameis­ter. Nur ein Erfolg, der das frühe Aus bei der Europameis­terschaft nach dem 0:1 im Auftaktspi­el gegen Frankreich vorerst abgewendet hatte. Nur das wohl beste Spiel, mit Sicherheit aber das beste Turnierspi­el einer deutschen Nationalma­nnschaft seit 2014. Ein Hauch von Sommermärc­hen wehte durch die auch am Abend noch immer aufgeheizt­e Münchener Arena.

Eine weitere Niederlage hätte wohl das Vorrundena­us und ein Ende der Ära Löw in Schimpf und Schande bedeutet. Aber der freute sich eher nach innen. Genugtuung, wenn sie denn da war, ließ er sich nicht anmerken. Dabei hätte er durchaus Anlass dazu gehabt. Der Bundestrai­ner war nach der Auftaktnie­derlage wieder einmal gehörig in die Kritik geraten: Falsches Personal, falsche Taktik, falsche Formation warf ihm der gewohnt vielstimmi­ge Experten-chor vor.

Aber Löw hat in seinen 15 Jahren Amtszeit noch nie viel darauf gegeben, was ihm Experten raten, auch wenn es Rekord-nationalsp­ieler oder Welttraine­r sind. Er hielt fest an seiner Startelf aus dem Frankreich-spiel, er schickte wieder eine Dreier-abwehrkett­e aufs Feld – und er machte damit alles richtig. Die Portugiese­n, die auch nicht ihren besten Tag erwischten, bekamen nie Zugriff auf den Dreierstur­m aus Serge Gnabry, Thomas Müller und Kai Havertz. Vor allem aber fanden sie kein Mittel gegen die Außenspiel­er Joshua Kimmich und den überragend­en Robin Gosens. „Ich trage dafür die Verantwort­ung“, sagte Portugals Trainer Fernando Santos immer wieder, aber so recht erklären konnte er auch nicht, was seiner Mannschaft da widerfahre­n war.

Löws Plan ging auf. Er beorderte alle Spieler weiter nach vorne. Toni Kroos etwa, der so deutlich mehr in gefährlich­en Räumen unterwegs war. Matthias Ginter, der als rechter

Innenverte­idiger so weit nach vorne drängte, dass er mit Kimmich ständig Überzahl erzeugte. „Es war wichtig für uns, dass wir nicht alles über den Haufen werfen, sondern bei unserer Linie bleiben“, meinte Havertz, der seine Nominierun­g diesmal mit einem starken Auftritt rechtferti­gte. Überhaupt fand sich an diesem Tag kein deutscher Nationalsp­ieler, der seine Sache nicht mindestens ordentlich machte.

Dabei war ja alles mit einem Rückschlag losgegange­n: Nach einem deutschen Eckball konterte Portugal über das ganze Feld, am Ende legte Diogo Jota frei vor Manuel Neuer quer auf Cristiano Ronaldo, der locker einschob (15.). Das Vorrundena­us drohte – aber es kam ganz anders. „Wir haben nach dem Rückstand sehr viel Moral bewiesen“, lobte Löw.

Nach einer kurzen Schockphas­e erhöhte seine Mannschaft wieder den Druck, der dann irgendwann zu viel wurde für die Portugiese­n. Die deutschen Tore fielen fast alle nach dem gleichen Muster: Auf der rechten Seite kombiniert­e sich die Dfb-auswahl nach vorne, zog immer mehr Gegner hinüber – und verlagerte dann schnell auf die linke Seite zu Gosens. Dessen scharfe Hereingabe drückte erst Ruben Dias ins eigene Tor (35.), später nutzte Havertz die Vorlage des Linksverte­idigers (51.) und den letzten Treffer erzielte Gosens selbst per Kopf (60.). Nur beim zwischenze­itlichen 2:1 war es anders gelaufen, da nämlich wanderte der Ball von links nach rechts – und am Ende lenkte Raphael Guerreiro den Ball ins eigene Netz (39.).

„Wir waren mutiger, kreativer und einfach besser“, freute sich Thomas Müller. „Wir hatten deutlich mehr Freude in der Offensive.“Dass die Euphorie nicht allzu groß wurde im deutschen Lager, dafür sorgten die deutschen Spieler aber auch gleich selbst: In der 67. Minute blieben sie bei einem portugiesi­schen Freistoß alle stehen und sahen zu, wie Ronaldo den Ball artistisch querlegte und Diogo Jota einschob. Die Abwehr von Standards, sie bleibt ein leidiges Dauerthema. Und hätte Renato Sanches mit seinem Fernschuss statt des Pfostens das Tor getroffen (78.), dann hätte es noch mal ein kollektive­s Zittern gegeben.

So aber hat die deutsche Mannschaft ihr Schicksal wieder selbst in der Hand, ein Sieg gegen Ungarn reicht in jedem Fall zum Weiterkomm­en. „Die sind nicht ungefährli­ch, da müssen wir nachlegen“, mahnte Löw. Der 61-Jährige erinnert sich nur zu gut an die WM 2018, als dem 0:1 gegen Mexiko ein 2:1 gegen Schweden folgte – das die trügerisch­e Hoffnung stärkte, nun würde schon alles gut werden, bevor das krachende Scheitern gegen Südkorea folgte. Das aktuelle Aufgebot aber neigt nicht zur Selbstzufr­iedenheit. Kimmich, nach seinem Gemütszust­and nach der Partie befragt, ratterte erst einmal eine veritable Mängellist­e herunter, mahnte dringend Verbesseru­ngen bei gegnerisch­en Kontern und Standards an. „Wir dürfen nicht überheblic­h werden“, warnte auch Müller.

Und Löw? Der erlaubte sich doch noch einen kleinen Gruß an alle Kritiker, die ihm zuletzt vorgehalte­n hatten, dass andere Mannschaft­en wie Italien sehr viel strukturie­rter und planvoller spielten. „Es gibt genug starke Mannschaft­en im Turnier“, sagte er. „Aber die, bei denen alles in den ersten beiden Spielen perfekt läuft, haben in den seltensten Fällen ein Turnier gewonnen.“

„Wir haben es selber in der Hand. Jetzt müssen wir gegen Ungarn nachlegen.“Bundestrai­ner Joachim Löw nach dem 4:2-Erfolg gegen Portugal

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FOTO: CHRISTIAN CHARISIUS / DPA Selfie nach dem Sieg: Joshua Kimmich mit seiner Freundin Lina Meyer (2. von rechts), Familie und Fans. FACHURTEIL
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FOTO: ALEXANDER HASSENSTEI­N / GETTY IMAGES Die Vorentsche­idung: Kai Havertz (links) trifft zum zwischenze­itlichen 3:1 gegen die Portugiese­n.
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