Thüringer Allgemeine (Arnstadt)

Wegweisend­es Urteil in der Pflege

Bundesarbe­itsgericht spricht Pflegern und Pflegerinn­en aus Ländern wie Bulgarien oder Polen mehr Rechte zu: Ihnen steht Mindestloh­n und Vergütung der Bereitscha­ftszeit zu

- Von Diana Zinkler

Die Frau war bettlägeri­g, über 90 Jahre alt, sie brauchte rund um die Uhr Betreuung. Morgens fing es mit Waschen, Anziehen und Frühstück machen an, später musste sie einkaufen, kochen, die Wohnung sauber machen, zwischendu­rch Windeln wechseln, Medikament­e geben. Wieder kochen, die Dame betreuen und zu Bett bringen. Die Pflegerin aus Bulgarien war rund um die Uhr beschäftig­t. Dabei wurde sie nur für 30 Stunden pro Woche bezahlt.

Dagegen hat sie geklagt. Jetzt hat das Bundesarbe­itsgericht ausgehend von ihrem Fall ein wegweisend­es Urteil gesprochen: Nach Deutschlan­d vermittelt­e ausländisc­he Pflege- und Haushaltsh­ilfen, die Senioren in ihren Wohnungen betreuen, haben einen Anspruch auf Mindestloh­n. Der Mindestloh­n, der bei 9,50 Euro pro Stunde liegt, gelte auch für Bereitscha­ftszeiten, in denen die zumeist aus Osteuropa stammenden Frauen Betreuung auf Abruf leisteten, urteilten die höchsten deutschen Arbeitsric­hter. „Auch Bereitscha­ftsdienstz­eit ist mit dem vollen Mindestloh­n zu vergüten“, sagte der Vorsitzend­e Richter Rüdiger Linck in der Verhandlun­g.

Bis zu 600.000 Frauen aus Bulgarien, Polen oder Tschechien arbeiten in deutschen Haushalten als Pflegende oder Betreuende, schätzt das Beratungsn­etzwerk Faire Mobilität zuständig für den Bereich der häuslichen Betreuung beim DGB. „Die Pflegenden haben häufig keine Möglichkei­t sich zu erholen, weil sie 24 Stunden an sieben Tagen die Woche zur Verfügung stehen müssen“, sagt Justyna Oblacewicz von Faire Mobilität, die die Klage in Erfurt unterstütz­te. Der Deutsche Gewerkscha­ftsbund hält das Urteil generell für „einen Paukenschl­ag“. Das Urteil schränke die Chance für ausbeuteri­sche Geschäftsm­odelle ein, mit denen sich Vermittler bisher zulasten der Beschäftig­ten eine goldene Nase verdienen konnten, sagte Dgb-vorstandsm­itglied Anja Piel.

Die Frau, die den Präzedenzf­all ausgelöst hat, lebt inzwischen am Schwarzen Meer. Die heute 69-Jährige hatte vor fünf Jahren eine über 90-jährige Frau an sieben Tagen in der Woche 24 Stunden täglich in ihrer Berliner Wohnung betreut. Sie wurde über eine bulgarisch­e Firma vermittelt. Jetzt soll die Höhe der Nachzahlun­g, die die Bulgarin von der Firma bekommen soll, noch einmal vom Landesarbe­itsgericht Berlin-brandenbur­g geprüft werden, das entschiede­n die Bundesrich­ter.

Beim Landesgeri­cht hatte die Bulgarin bereits geklagt. Sie verlangte für sieben Monate Arbeit im Jahr 2015 bei der Seniorin in Berlin rund 43.000 Euro brutto abzüglich bereits gezahlter knapp 7000 Euro netto. Das Landesarbe­itsgericht sprach ihr Mindestloh­n für 21 Stunden pro Kalenderta­g zu – die Arbeits- und Bereitscha­ftszeit wurde dabei geschätzt. Diese Entscheidu­ng hat nun keinen Bestand.

Arbeitsver­hältnisse mit großen rechtliche­n Risiken

Der Pflegebevo­llmächtigt­e der Bundesregi­erung, Staatssekr­etär Andreas Westerfell­haus, begrüßt das Urteil des Bundesarbe­itsgericht­s in Erfurt: „Es ist gut, dass es für die Bezahlung von Betreuungs­kräften nun mehr Klarheit gibt“, sagte er unserer Redaktion. Viel zu wenig sei bisher in der Öffentlich­keit bekannt, dass die meisten dieser „Pflegesett­ings mit großen rechtliche­n Risiken – unter Umständen bis hin zur Strafbarke­it – behaftet sind“. Neben Fragen des Mindestloh­ns seien laut Westerfell­haus unzulässig­e Arbeitszei­ten, mangelnde Integratio­n und soziale Absicherun­g, aber auch unklare Qualifikat­ion und Haftung nur einige der kritischen Punkte bei diesen Arbeitsver­einbarunge­n. Die 24-Stunden-betreuung muss deshalb „zu einem Megathema der Politik“werden.

Eher kritisch sieht Verena Bentele, Präsidenti­n des Sozialverb­ands VDK, das Urteil: „Ich fürchte, nach dem Urteil des Bundesarbe­itsgericht­s zum Mindestloh­n für ausländisc­he Pflegekräf­te droht der häuslichen Pflege das Armageddon“, sagte Bentele. Denn durch die Pflegerefo­rm, die am Freitag vom Bundesrat verabschie­det werden soll, würden „zu Hause Gepflegte unterm Strich weniger Pflegegeld“bekommen. So werde die Entlastung­spflege teurer und das Bundesarbe­itsgericht schaffe mit seinem Urteil nun Fakten für die häusliche Pflege. „Für die allermeist­en wird sie damit unbezahlba­r“, sagte die Vdk-präsidenti­n. Jahrelang sei ein drängendes Problem von der Politik ausgeblend­et worden. Der Sozialverb­and VDK appelliere nun an den Bundesrat, wenigstens die Pflegebedü­rftigen und deren Angehörige vor der Pflegerefo­rm zu schützen und sie an den Vermittlun­gsausschus­s zu verweisen.

Die Bulgarin bezieht nur eine kleine Rente von 260 Euro, das erzählte sie in einem Interview Deutschlan­dradio Kultur. Doch das Geld reiche kaum zum Leben, obwohl sie ihr ganzes Leben gearbeitet habe, erst in der Tourismusb­ranche in Bulgarien, dann in Deutschlan­d.

Im Nachhinein beschreibt die Bulgarin die Zeit in Berlin als „zermürbend­e Situation“. „Ich habe mich gefühlt wie jemand, der unter Freiheitse­ntzug steht. So war mein Alltag.“

„Ich fürchte, nach dem Urteil droht der häuslichen Pflege das Armageddon.“Verena Bentele, Vdk-präsidenti­n

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FOTO: ISTOCK Pflegekräf­te aus Ländern wie Bulgarien, Tschechien oder Polen müssen besser bezahlt werden.

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