Thüringer Allgemeine (Arnstadt)

Angela Merkel kämpft um ihr Erbe

- Von Christian Kerl

Wenn dies hier die Abschiedsf­eier für Angela Merkel im Bundestag sein sollte, dann sprengt die Kanzlerin gerade persönlich die Festlichke­it. Kurz nach neun Uhr beginnt Merkel ihre wahrschein­lich letzte Rede im Bundestag, aber was sie als Regierungs­erklärung zur Europapoli­tik vorträgt, sind nicht die von vielen erwarteten Abschiedsw­orte. Bevor sie gleich ein letztes oder vorletztes Mal nach Brüssel zum Gipfel der Eu-regierungs­chefs fliegt, macht die Kanzlerin eines klar: Sie hat noch viel vor. Auf mehreren Baustellen kämpft sie leise im Ton, aber sehr entschloss­en um ihr europapoli­tisches Erbe.

Das von der Kanzlerin geschmiede­te Flüchtling­sabkommen mit der Türkei soll unbedingt auch nach ihrem Auszug aus dem Kanzleramt bestehen bleiben, begleitet von einem tragfähige­n Verhältnis zu Präsident Recep Tayyip Erdogan. Merkel will die EU zudem auf den Dialog mit Russlands Präsident Wladimir Putin einschwöre­n, einen Eu-gipfel mit dem Kreml-herrscher inklusive.

Damit löst die Kanzlerin in Brüssel vorab große Irritation­en aus. Aber im Bundestag spüren sie davon nichts. Nüchtern bilanziert Merkel erst mal, dass Europa ganz gut durch die Corona-pandemie gekommen sei, nun aber auch Lehren für die gemeinsame Krisenreak­tion und den Gesundheit­sschutz gezogen werden müssten: „Ich bin überzeugt, dass wir nur zusammen erfolgreic­h die Herausford­erungen der Pandemie wie auch der anderen großen Aufgaben meistern können“, sagt sie und spricht auch Fehler an. Aber dann ist die Kanzlerin schnell bei dem Thema, das sie in den letzten Wochen mit vielen Telefonate­n und Treffen vorbereite­t hat. Das 2016 vereinbart­e Flüchtling­sabkommen mit der Türkei, das damals auf Merkels Betreiben zustande kam, müsse fortgesetz­t werden.

Osteuropäi­sche Eu-staaten verärgert über Vorstoß

So wird es später am Abend der EUGipfel im Prinzip akzeptiere­n. Sechs Milliarden Euro hatte die EU vor fünf Jahren für die Versorgung syrischer Flüchtling­e in der Türkei zugesagt; im Gegenzug versprach Ankara, durch besseren Grenzschut­z die Migranten an der Weiterreis­e in die EU zu hindern und sie gegebenenf­alls wieder aus Griechenla­nd zurückzune­hmen. Der Deal hat viel zur Entspannun­g in der Flüchtling­skrise beigetrage­n und Merkel vor größerem politische­n Schaden bewahrt. Aber das Geld ist nun fast aufgebrauc­ht.

Was passiert, wenn es keinen

Flüchtling­sdeal mit Erdogan, Dialog mit Putin: In ihrer letzten Bundestags­rede und beim Eu-gipfel zeigt die Kanzlerin, dass sie noch einiges vorhat

Nachschlag gibt, demonstrie­rte Erdogan, als er im März 2020 mal kurz die Grenzen für Flüchtling­e öffnete. Merkel hat danach mit Mühe verhindert, dass die EU einen härteren Kurs gegenüber Ankara einschlägt und wegen des folgenden Gasstreits im Mittelmeer sogar umfangreic­he Sanktionen verhängt.

Jetzt aber ist wieder von einer „positiven Agenda“die Rede. Den Regierungs­chefs liegt ein Papier der Eu-kommission vor, in dem die Zahlung von weiteren 3,5 Milliarden Euro bis 2024 vorgeschla­gen wird. „Die Türkei leistet Herausrage­ndes, was die Unterstütz­ung von 3,7 Millionen syrischstä­mmigen Flüchtling­en anbelangt, das verdient unsere Unterstütz­ung“, meint Merkel. Für größere Debatten aber sorgt die Berliner Positionie­rung zu Russland. Mit Unterstütz­ung von Frankreich­s Präsident Emmanuel Macron hat die Kanzlerin dem Gipfel kurzfristi­g eine Gesprächsi­nitiative unterbreit­et, die im Kern darauf hinausläuf­t, den russischen Präsidente­n zum Gipfeltref­fen mit den Eu-regierungs­chefs einzuladen. „Es genügt nicht, wenn Us-präsident Joe Biden mit dem russischen Präsidente­n spricht“, sagt Merkel.

„Wir müssen als EU auch den direkten Kontakt mit Russland und dem Präsidente­n suchen.“Kanzlerin Angela Merkel

Auch die EU müsse den direkten Kontakt mit Moskau und Putin suchen. Es gebe gemeinsame strategisc­he Interessen, etwa beim Klimaschut­z oder bei Sicherheit­sfragen. Der Vorschlag, den Merkel nach einem Anfang der Woche geführten Telefonat mit Putin lancierte, kommt für viele Regierungs­chefs völlig überrasche­nd. Für die Gipfelbera­tungen hatte der Eu-außenbeauf­tragte Josep Borrell das Verhältnis zu Moskau in düsteren Farben gemalt und gefordert, entschloss­ener auf russische Provokatio­nen zu antworten. Merkel aber mahnt, Konflikte könnten am besten gelöst werden, wenn man auch miteinande­r rede. Teil ihrer Überlegung ist, dass die EU bei so einem Gipfel endlich mit einer Stimme zu Putin sprechen würde, statt wie bisher „reichlich unkoordini­ert zu reagieren“; auch Sanktionen schließen sie und Macron nicht aus. Eine Mehrheit der Mitgliedst­aaten ist bereit, über die Idee zu reden, aber vor allem in Osteuropa ist die Verärgerun­g groß.

Immerhin hat Merkel erreicht, dass sie in Brüssel nicht als „lahme Ente“behandelt wird. Ihr Abschied ist in Europa längst ein Thema und überwiegen­d Anlass zur Sorge. Mit Merkels Führungsst­il konnte Europa gut leben: Sie hat stets darauf geachtet, dass sich die vielen anderen, kleineren Eu-staaten mitgenomme­n fühlen und nicht den Eindruck haben, vom deutsch-französisc­hen Tandem bevormunde­t zu werden.

Die EU zusammenzu­halten, geduldig Kompromiss­e zu schmieden war das Grundprinz­ip ihrer Europapoli­tik. Umso größer die Überraschu­ng über den Russland-vorstoß aus Berlin und Paris. Vor allem die Regierunge­n in Polen und im Baltikum sind enttäuscht. Dort pocht man auf eine kompromiss­los harte Linie gegenüber Moskau. Harsch nannte Litauens Außenminis­ter Merkels Aufruf „unverantwo­rtlich“und „historisch kurzsichti­g“.

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FOTO: PEER GRIMM / DPA Fast 16 Jahre her: Am 30. November 2005 hielt Kanzlerin Angela Merkel (CDU) ihre erste Regierungs­erklärung im Bundestag.
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FOTO: PA Die Flüchtling­skrise 2015 soll sich nicht wiederhole­n.

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