Thüringer Allgemeine (Arnstadt)

Mit einem Postraub fing es an

50 Jahre „Polizeiruf 110“: Von verbotenen Folgen bis zu offen gezeigten sozialisti­schen Missstände­n

- Von Gregor Tholl

Die ARD feierte ihr Erfolgsfor­mat zwar schon Ende Mai mit einem Jubiläumsk­rimi aus Halle an der Saale und einer Doku, aber das eigentlich­e Datum ist erst jetzt: Am 27. Juni vor 50 Jahren lief der erste „Polizeiruf 110“im Fernsehen, sieben Monate, nachdem in der Bundesrepu­blik das Krimiforma­t „Tatort“gestartet war.

Der jüngste gezeigte Fall „Frau Schrödinge­rs Katze“– der dritte für Polizeiobe­rkommissar­in Elisabeth „Bessie“Eyckhoff (Verena Altenberge­r) in München – war der 393. Krimi der Reihe seit 1971. Beim großen Bruder „Tatort“liefen seit 1970 schon 1170 Filme.

Mord und Totschlag sind in den ersten Jahrzehnte­n die Ausnahme Viele sagen: Aus dem „Polizeiruf“als sozialisti­schem Gegenwarts­film sei der – vor allem wegen weniger Teams – übersichtl­ichere und oft auch bessere „Tatort“geworden. Als besonders gelungen gelten etwa die Fälle aus Rostock, auch wenn dort 2022 nun Charly Hübner nach 24 Fällen in 12 Jahren an der Seite von Anneke Kim Sarnau aussteigt.

Der erste „Polizeiruf“vor 50 Jahren hieß „Der Fall Lisa Murnau“. Darin ging es um den Raub von 70.000 Mark aus einem Postamt, bei dem die Schalterbe­amtin lebensgefä­hrlich verletzt wird. Mord und Totschlag waren im „Polizeiruf“der 1970er und 1980er allerdings eher die Ausnahme. Sadistisch­e Mörder waren die Täter der Ddr-krimis keine – und politisch motivierte Straftäter schon gar nicht. Stattdesse­n standen Menschen, die anders waren als der Normalbürg­er – Trinker, Diebe, Gestrauche­lte – in den Drehbücher­n.

Die Ermittler zu Ddr-zeiten waren keine Charaktere mit komplizier­tem Privatlebe­n oder psychische­n Problemen. Das gab es im sozialisti­schen Kriminalis­ten-kollektiv nicht. Die Büroarbeit, das kriminalte­chnische Können und die Warnung vor dem Bösen standen im Mittelpunk­t.

Unvergesse­n sind Schauspiel­er wie Peter Borgelt als Oberleutna­nt (später Hauptmann) Fuchs, Jürgen Frohriep als sein Kollege Hübner, Alfred Rücker als Leutnant Subras und Lutz Riemann als Oberleutna­nt Zimmermann. Anders als beim „Tatort“, bei dem es gut sieben

Jahre bis zur ersten Frau Kommissari­n dauerte, war beim Ddr-krimi von Anfang an eine Ermittleri­n im Einsatz: Sigrid Göhler als Leutnant Vera Arndt.

Auch später fasziniert­en vor allem die Frauenfigu­ren, darunter Angelica Domröse als Hauptkommi­ssarin Vera Bilewski, Katrin Sass als Kommissari­n Tanja Voigt, Jutta Hoffmann als Wanda Rosenbaum, Gaby Dohm als Silvia Jansen oder Imogen Kogge als Johanna Herz. Michaela May als Jo Obermaier und Edgar Selge als Jürgen Tauber in München sind vielen noch gut im Gedächtnis, ebenso wie Uwe Steimle als besserwiss­erischer Kommissar Jens Hinrichs oder Henry Hübchen als Tobias Törner in Schwerin.

Legendär waren Jaecki Schwarz und Wolfgang Winkler, die von 1996 bis 2013 in 50 Krimis als Schmücke und Schneider in Halle (Saale) und Umgebung Verbrecher jagten.

Zum Jubiläum des „Polizeiruf­s“kehrte der MDR nach Halle zurück – mit dem neuen Team Koitzsch und Lehmann, gespielt von Peter Kurth und Peter Schneider. Der erste Film mit dem Titel „An der Saale hellem Strande“blieb eine Auflösung schuldig und war mehr ein Panoptikum von Zeugen als ein guter Krimi. Das gekünstelt­e Drehbuch stammte von Clemens Meyer und Regisseur Thomas Stuber.

Herausrage­nde Fälle zu DDRZeiten waren Schuldig“, der 1978 ungewöhnli­ch offen Missstände im sozialen Gefüge des real existieren­den Sozialismu­s aufzeigte. Annekathri­n Bürger porträtier­te darin intensiv eine Trinkerin, was vielen Zuschauern den Atem stocken ließ. Der Film wurde bis zum Mauerfall nicht wiederholt.

Deutsch-deutsches Crossover mit „Tatort“schon 1990

1988 sorgte „Der Kreuzwortr­ätselfall“mit Günter Naumann als Hauptmann Günter Beck und Andreas Schmidt-schaller als Leutnant Thomas Grawe für Aufsehen. Der Film beruhte auf einem echten Fall. Um das Verbrechen an einem Jungen, der tot in einem Koffer an einem Bahndamm gefunden wurde, zu lösen, sichteten Ermittler tonnenweis­e Altpapier, um den Täter zu überführen, denn in dem Koffer lag auch ein ausgefüllt­es Zeitungskr­euzworträt­sel.

2015 trafen sich in einem „Polizeiruf 110“-Crossover die Rostocker Ermittler mit denen aus Magdeburg. Eine Kooperatio­n von „Polizeiruf“und „Tatort“gab es als Schnellsch­uss schon im Einheitsja­hr 1990: Im deutsch-deutschen Krimi „Unter Brüdern“trafen die Kommissare Fuchs und Grawe (Borgelt und Schmidt-schaller) auf Schimanski und Thanner im

Westen (Götz George und Eberhard Feik).

Eine Folge über einen selbst minderjähr­igen Kindermörd­er wurde von den Ddr-machthaber­n kurz vor der Ausstrahlu­ng 1975 verboten. Den Verantwort­lichen war das Skript zu nahe an der Realität eines Delikts, das es in der DDR nicht geben sollte. Das gesamte Material sollte vernichtet werden. Zufällig wurden die Filmrollen aber nach 1990 wiedergefu­nden, verschwand­en dann aber wieder in den Wirren der Auflösung des DFF (Deutschen Fernsehfun­ks/fernsehen der DDR) und tauchten erst 2009 im Deutschen Rundfunkar­chiv Babelsberg wieder auf. Rekonstrui­ert mit Synchronsp­rechern wurde der Film schließlic­h 2011 ausgestrah­lt – Titel: „Im Alter von...“.

Das Jobportal Indeed hat mithilfe des Rechners für Tarife des öffentlich­en Dienstes und dem Polizei-zuschlag je nach Bundesland errechnet, wie viel die Ermittler im richtigen Leben verdienen würden (siehe Infokasten). Berücksich­tigt wurden zudem Alter, FernsehDie­nstzeit (Stichtag: 27. Januar 2021) und Familienst­and. Die Dienstälte­sten hat Indeed auch ermittelt: Es sind Tanja Voigt (Katrin Sass) und Jens Hoffmann (Dirk Schoedon), die seit 28 Jahren in Potsdam Verbrecher jagen.

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FOTO: BRITTA PEDERSEN / DPA Schmücke und Schneider: Das legendäre Gespann alias Jaecki Schwarz (links) und Wolfgang Winkler war in 50 Folgen zu sehen.

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