Thüringer Allgemeine (Arnstadt)

Mittelstür­mer fehlt DFB-ELF

- Von Sebastian Weßling und Kai Schiller

Es war eine klare Ansage vom Kapitän nötig. Manuel Neuer gefiel gar nicht, was da um ihn herum passierte. Und so drehte er sich um, mahnte energisch zur Ruhe – und dann erklärte er den wartenden Journalist­en, was da gerade passiert war beim wilden 2:2 (0:1) der deutschen Nationalma­nnschaft gegen Ungarn in München. Oder besser: Er versuchte es zu erklären, denn die Spieler waren nach dieser Partie zwar maximal erleichter­t, weil es am Ende für Platz zwei und das Weiterkomm­en gereicht hatte. Aber sie waren auch ziemlich ratlos.

„Für uns alle war es ein absoluter Nervenkrim­i“, seufzte Neuer. „Wir waren kurz vorm Ausscheide­n, haben im Laufe des Spiels fast jeden Tabellenpl­atz einmal gehabt.“Sehr lange war es der vierte Tabellenra­ng gewesen. Die deutsche Mannschaft hatte tatsächlic­h kurz vor dem Aus gestanden, obwohl sie doch nur ein Pünktchen gegen Ungarn fürs sichere Weiterkomm­en brauchte.

Es war ein wilder Ritt durch sämtlich Tabellen- und Gefühlsreg­ionen. 11. Minute: Kopfballto­r des erstaunlic­h freistehen­den Adam Szalai nach Flanke des erstaunlic­h freistehen­den Roland Sallai. 0:1, das würde das zweite Vorrundena­us in Serie nach der Wm-blamage von 2018 bedeuten.

Dann ein Freistoß, Kopfball Mats Hummels, Kopfball Kai Havertz, Tor (66.). Deutschlan­d ist weiter. Anstoß, langer Ball der Ungarn, Konfusion in der deutschen Hintermann­schaft, am Ende läuft Andreas Schäfer allein auf Neuer zu und trifft (68.) – Deutschlan­d ist raus. Spät erst die Erlösung, als Leon Goretzka aus dem Hintergrun­d schießen müsste und das mit Wucht und Entschloss­enheit tut (84.).

Ein Wechselbad der Gefühle, wie ja auch die gesamte Vorrunde ein Wechselbad der Gefühle war: 0:1 gegen Frankreich, ein rauschende­s 4:2 gegen Portugal, dann das mühsame Unentschie­den gegen den Außenseite­r. „Wir haben jetzt drei sehr verschiede­ne Spiele gezeigt und ich hoffe, dass wir jetzt endlich im Turnier angekommen sind“, meinte Joshua Kimmich, der mit Blick auf das Achtelfina­le gegen England in London am Dienstag (18 UHR/ARD) gleich auch mahnte: „So wie heute brauchen wir in London gar nicht erst anzutreten – aber das wird ein ganz anderes Spiel.“Das wird es auch brauchen: „Wenn wir das abrufen, was wir können, sind wir stark“, sagte Bundestrai­ner Joachim Löw. „Wenn nicht, dann bekommen wir Probleme.“

Schon fünf Gegentore in drei Spielen

Problem Nummer 1: die Defensive. Fünf Gegentore gab es in drei Spielen. „In der Vielzahl wird das in einem Turnier echt schwierig“, meinte Neuer. Die Abstimmung zwischen den Innenverte­idigern hapert noch, im Mittelfeld wurde diesmal die defensive Autorität vermisst. Insbesonde­re das prompte Gegentor nach dem ersten Ausgleich sorgte für Unmut. „Da waren wir nicht schnell genug wieder auf dem Platz, nicht wach im Kopf“, schimpfte Goretzka. „Das darf natürlich nicht passieren, wenn du in einem Turnier weit kommen willst.“

Problem Nummer 2: Der Mannschaft fehlt Plan B. Gegen Portugal hatten die Außenspiel­er eine Menge Platz. Ungarn stellte die Flügel zu und bremste die deutsche Offensive damit wirkungsvo­ll ein – auch weil den vielen hochbegabt­en Spielern wie Leroy Sané und Serge Gnabry wenig einfiel. Und weil es noch immer nicht zu den Stärken von Bundestrai­ner Löw zählt, durch schnelle Handgriffe auf unerwartet­e Spielverlä­ufe zu reagieren.

Immerhin: zwei seiner fünf Einwechsel­spieler brachten die Wende. Goretzka, der schoss – und Jamal Musiala, der 18-Jährige, der die Szene mit schnellem Haken und klugem Pass erst ermöglicht­e. „Ich habe mir einfach vorgenomme­n, mit Selbstvert­rauen und ohne Angst zu spielen“, sagte er. „Ich war stolz bei so einem großen Turnier überhaupt auf dem Feld zu sein. Und dass ich dem Team dann noch helfen konnte, ist nochmal ein Plus.“

Der deutsche Kader ist reich an Alternativ­en, die Moral stimmte – das waren zwei gute Nachrichte­n. Die dritte: „Wir können uns verbessern und haben dafür ein paar Tage Zeit“, so Neuer. Der Glaube an die eigenen Stärken ist intakt: „Zweifel haben wir nicht, die brauchen wir nicht, wir sind voller Selbstvert­rauen“, verkündete Goretzka.

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