Thüringer Allgemeine (Arnstadt)
Mittelstürmer fehlt DFB-ELF
Es war eine klare Ansage vom Kapitän nötig. Manuel Neuer gefiel gar nicht, was da um ihn herum passierte. Und so drehte er sich um, mahnte energisch zur Ruhe – und dann erklärte er den wartenden Journalisten, was da gerade passiert war beim wilden 2:2 (0:1) der deutschen Nationalmannschaft gegen Ungarn in München. Oder besser: Er versuchte es zu erklären, denn die Spieler waren nach dieser Partie zwar maximal erleichtert, weil es am Ende für Platz zwei und das Weiterkommen gereicht hatte. Aber sie waren auch ziemlich ratlos.
„Für uns alle war es ein absoluter Nervenkrimi“, seufzte Neuer. „Wir waren kurz vorm Ausscheiden, haben im Laufe des Spiels fast jeden Tabellenplatz einmal gehabt.“Sehr lange war es der vierte Tabellenrang gewesen. Die deutsche Mannschaft hatte tatsächlich kurz vor dem Aus gestanden, obwohl sie doch nur ein Pünktchen gegen Ungarn fürs sichere Weiterkommen brauchte.
Es war ein wilder Ritt durch sämtlich Tabellen- und Gefühlsregionen. 11. Minute: Kopfballtor des erstaunlich freistehenden Adam Szalai nach Flanke des erstaunlich freistehenden Roland Sallai. 0:1, das würde das zweite Vorrundenaus in Serie nach der Wm-blamage von 2018 bedeuten.
Dann ein Freistoß, Kopfball Mats Hummels, Kopfball Kai Havertz, Tor (66.). Deutschland ist weiter. Anstoß, langer Ball der Ungarn, Konfusion in der deutschen Hintermannschaft, am Ende läuft Andreas Schäfer allein auf Neuer zu und trifft (68.) – Deutschland ist raus. Spät erst die Erlösung, als Leon Goretzka aus dem Hintergrund schießen müsste und das mit Wucht und Entschlossenheit tut (84.).
Ein Wechselbad der Gefühle, wie ja auch die gesamte Vorrunde ein Wechselbad der Gefühle war: 0:1 gegen Frankreich, ein rauschendes 4:2 gegen Portugal, dann das mühsame Unentschieden gegen den Außenseiter. „Wir haben jetzt drei sehr verschiedene Spiele gezeigt und ich hoffe, dass wir jetzt endlich im Turnier angekommen sind“, meinte Joshua Kimmich, der mit Blick auf das Achtelfinale gegen England in London am Dienstag (18 UHR/ARD) gleich auch mahnte: „So wie heute brauchen wir in London gar nicht erst anzutreten – aber das wird ein ganz anderes Spiel.“Das wird es auch brauchen: „Wenn wir das abrufen, was wir können, sind wir stark“, sagte Bundestrainer Joachim Löw. „Wenn nicht, dann bekommen wir Probleme.“
Schon fünf Gegentore in drei Spielen
Problem Nummer 1: die Defensive. Fünf Gegentore gab es in drei Spielen. „In der Vielzahl wird das in einem Turnier echt schwierig“, meinte Neuer. Die Abstimmung zwischen den Innenverteidigern hapert noch, im Mittelfeld wurde diesmal die defensive Autorität vermisst. Insbesondere das prompte Gegentor nach dem ersten Ausgleich sorgte für Unmut. „Da waren wir nicht schnell genug wieder auf dem Platz, nicht wach im Kopf“, schimpfte Goretzka. „Das darf natürlich nicht passieren, wenn du in einem Turnier weit kommen willst.“
Problem Nummer 2: Der Mannschaft fehlt Plan B. Gegen Portugal hatten die Außenspieler eine Menge Platz. Ungarn stellte die Flügel zu und bremste die deutsche Offensive damit wirkungsvoll ein – auch weil den vielen hochbegabten Spielern wie Leroy Sané und Serge Gnabry wenig einfiel. Und weil es noch immer nicht zu den Stärken von Bundestrainer Löw zählt, durch schnelle Handgriffe auf unerwartete Spielverläufe zu reagieren.
Immerhin: zwei seiner fünf Einwechselspieler brachten die Wende. Goretzka, der schoss – und Jamal Musiala, der 18-Jährige, der die Szene mit schnellem Haken und klugem Pass erst ermöglichte. „Ich habe mir einfach vorgenommen, mit Selbstvertrauen und ohne Angst zu spielen“, sagte er. „Ich war stolz bei so einem großen Turnier überhaupt auf dem Feld zu sein. Und dass ich dem Team dann noch helfen konnte, ist nochmal ein Plus.“
Der deutsche Kader ist reich an Alternativen, die Moral stimmte – das waren zwei gute Nachrichten. Die dritte: „Wir können uns verbessern und haben dafür ein paar Tage Zeit“, so Neuer. Der Glaube an die eigenen Stärken ist intakt: „Zweifel haben wir nicht, die brauchen wir nicht, wir sind voller Selbstvertrauen“, verkündete Goretzka.