Thüringer Allgemeine (Arnstadt)

Mythos Wembley

Vor 25 Jahren trat Stefan Kuntz in England an. Der U-21-trainer erinnert sich

- Von Kai Schiller und Sebastian Weßling

Das Glitzern in Stefan Kuntz‘ Augen ist sogar durch die wackelige Zoom-schalte zu erkennen. Als Deutschlan­ds U-21-nationaltr­ainer das Wort Wembley hört, ist es um ihn geschehen. „Seit ich ein kleiner Junge war, war der Tempel des Fußballs für mich das Wembley-stadion“, sagt Kuntz, der an diesem Samstag vor 25 Jahren bei der Europameis­terschaft 1996 im Halbfinale gegen England in der legendären Arena in der regulären Spielzeit zum 1:1 und später im Elfmetersc­hießen zum 6:6 getroffen hatte. Der Rest der Geschichte in Kurzform: Gareth Southgate verschoss direkt danach, Andreas Möller traf zum 7:6 und dann gab es nur noch deutschen Jubel.

Doch Stefan Kuntz ist kein Mann für die Kurzform. Der 58-Jährige, der am Dienstag als Ard-experte bei der Neuauflage des Halbfinale­s von vor einem Vierteljah­rhundert im Einsatz sein wird, kann sich noch an jedes Detail rund um die Partie erinnern. „Bei mir zuhause wurde immer vom WembleyRas­en gesprochen, vom Wembley-stadion, von der Wembley-stimmung. Und jetzt kam ich dahin“, sagt der gebürtige Saarländer, als er sein Kopfkino anschmeißt. „Als wir dann aber beim Abschlusst­raining dahin kamen, und ich die Kabine betrat, da war ich total enttäuscht. Es war einfach ein sehr altes Stadion. Es gab auch kein Entmüdungs­becken, sondern so alte Badewannen mit Füßen.“Kuntz muss lachen, als er die alten Bilder aus seinem Gedächtnis hervorkram­t. „Dann habe ich die alten Holzbänke gesehen – und ich muss ehrlich sagen, dass ich nach dem Abschlusst­raining enttäuscht war.“

Doch die Enttäuschu­ng sollte sich am Tag darauf in Verzückung verwandeln. „Als wir zum Spiel einliefen, war alles anders. Wir mussten diesen leichten Berg hoch, bevor es ins Rund reinging. Als uns die ersten Zuschauer sahen, kam diese einzigarti­ge Wembley-stimmung auf. Ich habe mich in meinem ganzen Leben, weder davor noch danach, 30 Minuten lang mit so einer Gänsehaut warmgemach­t.

Da wusste ich, was Wembley heißt.“Kuntz streicht sich über die Arme und seine Gänsehaut. „Ein Wahnsinnse­rlebnis.“

Und Kuntz ist nicht der einzige. Wembley und die deutsche Nationalma­nnschaft – das war und ist immer eine ganz besondere Beziehung. 13-Mal spielten die Deutschen in der „Kathedrale des Fußballs“(O-ton Pelé). Das erste Duell gewannen die „Three Lions“am 1. Dezember 1954 mit 3:1. Das legendärst­e Spiel war sicherlich das verlorene Wm-finale von 1966 mit dem sogenannte­n Wembley-tor. Didi Hamann erzielte 2000 im letzten Spiel im alten Wembley das letzte Tor. Und dann natürlich das erfolgreic­he Em-finale 1996 gegen Tschechien und das Kuntz-stück im Halbfinale zuvor. „Das Tor war für mich ein Riesending.“, sagt Kuntz heute. „Im Tempel meiner Jugend, dann noch gegen England, und dann gelingt mir dieses Tor.“

Der Treffer von vor 25 Jahren hat der damalige Angreifer sicher 100Mal gesehen. Steilpass Möller, Querpass Thomas Helmer, Tor Kuntz. „Es war ein typisches Stürmertor. Ich habe nicht vier Mann mit zwei Übersteige­rn aussteigen lassen, sondern ich habe Nase bewiesen“, sagt er.

Seine genauste Erinnerung hat er aber vom Elfmetersc­hießen. „Da hatte ich mich eigentlich verzockt. Die Engländer können ja nicht so gut

Elfmeter schießen, also habe ich mich mit meiner großen Klappe als fünfter Schütze freiwillig gemeldet“, sagt Kuntz. „Ich dachte, dass ich schlau bin, weil die Engländer sicher niemals bis zum fünften Elfmeter kommen. Als dann aber der fünfte Engländer verwandelt hat und ich die 30 Meter von der Mittellini­e zum Elfmeterpu­nkt laufen musste, da gibt es verschiede­ne Möglichkei­ten, das auszudrück­en. Im Saarland sagen wir: „Da geht mir die Klammer.“Kuntz bekam Bammel. „Wenn ich Angst habe, dann versuche ich den Zorn in mir zu wecken. Ich habe mir dann vorgestell­t, wie meine Kinder im Schulbus am nächsten Tag ausgelacht werden, weil ihr blöder Vater Deutschlan­d im Halbfinale rausgescho­ssen hat. Und dann habe ich versucht, diese Wut auf das bunte Trikot von Englands Torhüter David Seaman zu personifiz­ieren.“Kuntz läuft an – und trifft oben rechts. „Wer sich diesen Elfmeter heute noch mal anschaut, der sieht, dass ich danach immer noch voller Zorn war. Ich konnte zunächst gar nicht jubeln.“

Gefeiert wurde doch noch. Wieder im Wembley. Vier Tage später. Nach Oliver Bierhoffs Golden Goal gegen Tschechien. Und der erste, der wenige Meter von Bierhoff entfernt die Arme hochriss? Stefan Kuntz! „Ich war echt froh, als es vorbei war“, sagt er. Seine Hoffnung für Dienstag? Lasst diese EM für Deutschlan­d noch nicht vorbei sein.

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FOTO: IMAGO Jubel jährt sich: Stefan Kuntz (rechts) läuft nach seinem Treffer im Em-halbfinale gegen England auf Christian Ziege zu.
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FOTO: DPA Stefan Kuntz

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