Thüringer Allgemeine (Arnstadt)

Eine wahrhafte Reise in die Zukunft

Der Künstler Chris Salter über sein spektakulä­res Kunstfest-projekt „Animate“

- Wolfgang Hirsch Weitere Informatio­nen und Tickets unter www.kunstfest-weimar.de

Weimar. Chris Salter hat Philosophi­e und Wirtschaft­swissensch­aften an der Emory University studiert und an der Stanford University in Regie/theaterwis­senschaft promoviert. Er ist Künstler und Professor für Immersive Künste an der Zürcher Hochschule der Künste. Seine innovative­n Arbeiten haben weltweit Furore gemacht; nun gestaltet er fürs Kunstfest Weimar das Virtual-/augmented-reality-projekt „Animate“. Wir sprachen mit ihm.

Worin liegt für den Zuschauer die Faszinatio­n bei solchen Projekten?

Die Zuschaueri­n, der Zuschauer befindet sich gleichzeit­ig in einer computerge­steuerten Welt, die er normalerwe­ise nur auf dem Bildschirm anschaut, und in der realen Welt, wo er als körperlich­es Wesen mit all seinen fünf Sinnen in einen echten Raum eingebette­t ist. Über die Vr-brille nimmt er eine Szenerie dreidimens­ional wahr und weiß zugleich, dass das nicht real ist.

Er hat also den Eindruck, dass er sich als reale Figur im Virtuellen bewegt?

Die eigene Orientieru­ng macht den Reiz aus, weil das Virtuelle ja nicht wirklich existiert. Interessan­t ist, dass Antonin Artaud schon 1938 von der Theaterbüh­ne als ,virtueller Realität’ sprach, vom Theater, das einerseits da ist und zugleich Symbol für etwas ist, das abwesend ist.

Sie schicken Ihre Besucher in eine Klima-dystopie, in eine Welt, von der wir fürchten müssen, dass sie in naher Zukunft real wird?

Wir erzählen eine Kurzgeschi­chte aus Kanada, eine sogenannte Climate Fiction, die aber in der Jetztzeit spielt. Sie beginnt mit der Autofahrt von Laurie und Daniel, die durch das Gebiet der Tablelands im kanadische­n Gros-morne-nationalpa­rk fahren, eine bizarre marsähnlic­he Landschaft. So verschwimm­en auch die Zeitebenen, denn der Klimawande­l liegt nicht in der Zukunft, sondern findet bereits real statt. ,Animate’ würde ich als ,Belebung’ übersetzen: Begreifen wir Mutter Erde doch als ein belebtes, mitunter auch ziemlich gewalttäti­ges Wesen!

Sprechen wir über Immersive Künste als neuer Kunstform. Was reizt Sie als Computatio­nal Artist daran?

Mich interessie­rt Virtual Reality nicht so sehr, weil das letztlich eine in sich abgeschlos­sene Welt ist; für mich wichtiger ist die Augmented

Reality, die aus einer echten, physischen Welt besteht, die mit der anderen verwoben ist. Der Zuschauer wird Teil des Kunstwerks, in dem er sich körperlich bewegt und mediatisie­rte Umgebungen erlebt.

Somit ist der künstleris­che Freiraum völlig entgrenzt?

Schön wär’s! Unsere technische­n Möglichkei­ten sind noch sehr eingeschrä­nkt. Das Verrückte ist, dass man eigentlich alles erst erfinden muss. Wir nutzen kommerziel­les Equipment und Software, die wir für unsere Zwecke um- und aufbauen müssen – damit der Zuschauer dieses unbegrenzt­e Gefühl gewinnt.

Wie läuft der Produktion­sprozess ab? Es ist, als ob wir einen Film auf der Basis eines Hörspiels machen, den wir zur interaktiv­en Kunst erweitern – also eine Hybridisie­rung ganz verschiede­ner Kunstforme­n. Dazu brauchen wir Bühnenbild­ner und Schauspiel­er, Game-designer und Software-entwickler, Akustik- und Elektronik-fachleute. Diese Kunstform ist total interdiszi­plinär, wir benutzen Technologi­en, die sich noch im Experiment­ierstadium befinden. Es ist völliges Neuland.

In welchen künstleris­chen Traditione­n verorten Sie sich?

Die theoretisc­hen Grundlagen findet

man zum Teil schon bei Artaud oder bei Marshall Mcluhan, das hat bereits eine lange Geschichte. Trotzdem machen wir – in Echtzeit – etwas, was nie zuvor da war.

Fürchten Sie nicht den kommerziel­len oder sogar militärisc­hen Einsatz solcher Anwendunge­n? Denken wir nur an das Abba-projekt!

Ich glaube, Abba waren in Wirklichke­it niemals so schön wie ihre heutigen Avatare. Und natürlich arbeiten die Facebook-, Google- und Applekonze­rne an solchen Virtual, Augmented oder Extended Realities; das Rennen hat längst begonnen. Die Gefahr ist groß, Menschen damit zu manipulier­en. Ebenso interessie­rt das Militär sich dafür. Wir machen Kunst als Gegensatz zu diesen Trends.

Kann ich als Individuum damit der Realität entfliehen?

All diese Technologi­en sind Werkzeuge, ähnlich anderen, von uns Menschen benutzten Werkzeugen: dem Radio, dem Fernseher, dem Computer. Wir alle sind längst völlig verwoben mit dieser technisier­ten Umwelt. Realität ist, mehr als jemals zuvor, eine Frage des Bewusstsei­ns.

 ?? WOLFGANG HIRSCH ?? Professor Chris Salter, Us-amerikaner aus Zürich, lässt beim Kunstfest Weimar in einer alten Fabrikhall­e mittels Virtual-reality-technologi­en visionäre, begehbare Landschaft­en entstehen.
WOLFGANG HIRSCH Professor Chris Salter, Us-amerikaner aus Zürich, lässt beim Kunstfest Weimar in einer alten Fabrikhall­e mittels Virtual-reality-technologi­en visionäre, begehbare Landschaft­en entstehen.
 ?? SASCHA FROMM/ ARCHIV ?? Die Ket-halle, Teil des ehemaligen Weimar-werks, wird abermals Schauplatz eines spektakulä­ren Kunstproje­kts.
SASCHA FROMM/ ARCHIV Die Ket-halle, Teil des ehemaligen Weimar-werks, wird abermals Schauplatz eines spektakulä­ren Kunstproje­kts.

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