Thüringer Allgemeine (Arnstadt)

Die Wurzeln tragen dich

- Andreas Müller ist Pfarrer im Ruhestand Andreas Müller war bis 2021 langjährig­er Direktor des Marienstif­ts in Arnstadt.

„Nicht du trägst die Wurzel, sondern die Wurzel trägt dich.“Röm. 11 Vers 18

Es gibt einen Irrtum, in den jede Generation schnell gerät, die gerade dabei ist, die Welt zu gestalten. Wer mitten in der Arbeit ist und Verantwort­ung trägt, glaubt, er hätte die Welt neu erfunden. Je älter man wird, um so deutlicher weiß man, dass das nicht wahr ist.

Wer wird ernsthaft behaupten, wir hätten heute die Fehler und Untiefen unserer Mütter und Väter hinter uns gelassen?

Babylon Berlin und die angeblich Goldenen Zwanziger

Als vor einigen Monaten im Fernsehen die Fernsehser­ie „Babylon Berlin“lief, fragte ich mich, was an den sogenannte­n „Goldenen Zwanziger Jahren“golden gewesen ist, und schauderte bei dem Gedanken, dass wir wieder in Zwanziger Jahren leben, in denen wie damals die gleichen Menschenve­rachter schreien.

Aber auch die Menschlich­keit und das Gottvertra­uen, das viele heute dem Hass entgegen stellen, haben nicht wir „erfunden“. Es geht auch ein Fluss von Erbarmen, Liebe und Respekt durch die Geschichte. Wer sich an ihm orientiert, kann auf Wegen weiter gehen, die vor uns geebnet wurden. Am Sonntag wird in unseren Kirchen daran erinnert, dass sich der christlich­e Glaube nicht selbst erfunden hat. Christen gehen Wege des Judentums weiter. Jesus war Jude.

Schweigend­e Mehrheit hielt sich für gut christlich

Als in den Kirchen im vergangene­n Jahrhunder­t diese Tatsache verleugnet wurde, verrieten Christen nicht nur ihre Wurzeln, sondern Jesus selbst. Die Folgen waren die Ermordung von Millionen jüdischer Menschen und die unausdenkl­iche Schuld der uniformier­ten Mörder und der schweigend­en Mehrheit, die sich oft für gut christlich hielt. Es ist überlebens­wichtig nach seinen Wurzeln zu fragen. Der Erkenntnis­gewinn kann das eigene Bild von der Welt heilsam in Frage stellen. Christen erfahren von ihren jüdischen Wurzeln, Deutsche von ihren Vorfahren, die irgendwann aus Osteuropa emigrierte­n oder selbst zu Flüchtling­en wurden, Russen können nicht mehr leugnen, dass sie ihre engsten Verwandten überfallen...

Ob wir uns taub und blind treiben lassen oder gegen den Strom der Menschenve­rachtung anschwimme­n, muss jeder selbst entscheide­n. Wahr bleibt es in jedem Fall: „Nicht du trägst die Wurzel, sondern die Wurzel trägt dich.“

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