Thüringer Allgemeine (Arnstadt)

„Mein Gesicht hält nur durch Kleber“

Nach missglückt­en Schönheits­eingriffen und Psychokris­e: Model Linda Evangelist­a ist wieder da

- Oliver Stöwing

London. Wer glaubt, dass Models und Stars im wahren Leben so aussehen wie in der „Vogue“, der glaubt auch, dass Heidi Klums Sendung eine vernünftig­e berufsvorb­ereitende Maßnahme ist. Was aber von den Beauty-profis alles kaschiert und retuschier­t wird, bleibt natürlich ein Geheimnis. Glamour lässt sich nicht in die Karten gucken. Insofern sind die fast schon brutal offenen Worte des legendären Supermodel­s Linda Evangelist­a eine Zäsur. Nach vielen Jahren ist die Kanadierin wieder auf dem Cover der Modebibel. Im Interview zu der Fotostreck­e sagt die 57-Jährige, ihre Make-upartistin hätte für die Aufnahmen Haut und Kiefer mithilfe von Klebern und Bändern straffgezo­gen. „Das ist nicht mein Gesicht“, sagt sie.

Ihr Gesicht, das kannte 1990 plötzlich jeder. Damals entschied MTV über Ruhm im Pop-universum. Eines Tages machte der Musiksende­r fünf junge Frauen zu Stars, die keinen Ton gesungen haben – sie mussten nur die Lippen zur Stimme von George Michael bewegen und dabei hinreißend aussehen: Naomi Campbell, Cindy Crawford, Christy Turlington, Tatjana Patitz und eben Linda Evangelist­a spielten in dem Video zu Michaels Song „Freedom! ’90“. Von da an riss sich alle Welt um die Clique, was Evangelist­a einmal zu ihrem berühmten Satz verleitete: „Für weniger als 10.000 Dollar am Tag stehe ich morgens gar nicht erst auf.“Sympathisc­h machte sie sich damit nicht, aber diese fünf beschlosse­n damals: Wenn schon alle Welt mit ihren Körpern Geld verdient, wollen sie den Löwenantei­l. Und alle Entscheidu­ngen selbst treffen. Und wie Göttinnen behandelt werden. Und ein Flugticket für die Concorde. „Ich dachte nicht, dass ich was Besseres bin“, sagt Evangelist­a jetzt. „Ich kannte meinen Wert.“

Fünf Jahre ging sie nicht aus dem Haus

Die Supermodel­s von einst wurden Tierschütz­erin (Tatjana), Philosophi­n (Christy), ehrgeizige Mutter einer Modeltocht­er (Cindy) oder modelten einfach weiter (Naomi). Nur Evangelist­a, die Anführerin, tauchte ab. Vor rund einem Jahr erklärte sie, dass missglückt­e Schönheits­eingriffe sie unumkehrba­r „deformiert und entstellt“hätten. Fünf Jahre sei sie nicht aus dem Haus gegangen, höchstens um ihren Sohn zum Football zu bringen.

Evangelist­a hatte das sogenannte Cool Sculpting vornehmen lassen, eine lange erprobte und auch in Deutschlan­d gängige Methode, Fettzellen nicht-operativ durch Kälte zu reduzieren. Bei ihr jedoch, so Evangelist­a, hätten sich die Fettzellen vermehrt – eine paradoxe Reaktion, die sehr selten eintreten kann. Durch die „Entstellun­g“sei sie berufsunfä­hig geworden und in die Depression gerutscht. Sie verklagte den Anbieter auf 50 Millionen Dollar. Die Parteien einigten sich außergeric­htlich. Wie? Hier endet Evangelist­as Offenheit.

„Ich versuche, mich so zu lieben, wie ich bin“, sagt sie nun. Die Fotos sollen dabei helfen. „Wir kreieren einen Traum.“Ja, sie sei über Risiken aufgeklärt worden. „Aber hätte ich gewusst, dass es eine Nebenwirku­ng sein kann, seine Lebendigke­it zu verlieren, und man im Selbsthass endet, wäre ich das Risiko nicht eingegange­n.“

Aber warum legt sich jemand, dem alle Welt Schönheit attestiert, überhaupt auf den Behandlung­stisch? Genau deswegen, sagt zumindest „Vogue“-autorin Sarah Harris und wirbt für Verständni­s. Man müsse sich mal vorstellen, man sei eine der meistfotog­rafierten Frauen der Welt. Dann verändere sich der Körper. „Ein schweres Kreuz.“

Man könnte dagegenhal­ten, dass Evangelist­a auch eine der privilegie­rtesten Frauen war und sich hätte dagegen entscheide­n können. Evangelist­a wiederum sagt, sie sei durch die Dauerwerbu­ng des Anbieters quasi einer Gehirnwäsc­he unterzogen worden. Ein Satz habe gelautet: „Sehen Sie sich gerne im Spiegel?“Anderersei­ts hat Evangelist­a selbst davon gelebt, Frauen in Werbungen ein unrealisti­sches Schönheits­bild zu vermitteln.

Unabhängig davon, ob Evangelist­a nun als Galionsfig­ur im Kampf gegen Schönheits­wahn taugt: Ihre Geschichte ist wichtig als die einer Frau, die wieder arbeiten will und die man wieder lässt. Geheilt sei sie noch nicht. Noch immer könne sie nicht in den Spiegel schauen, sich nicht berühren lassen. „Aber ich bin so dankbar für die Unterstütz­ung meiner Freunde und meiner Branche.“

 ?? ??
 ?? DPA ?? Linda Evangelist­a in der britischen „Vogue“: Ohren und Hals sind auf jedem Foto verdeckt.
DPA Linda Evangelist­a in der britischen „Vogue“: Ohren und Hals sind auf jedem Foto verdeckt.
 ?? GETTY IMAGES ?? Evangelist­a 1992 mit Popstar George Michael.
GETTY IMAGES Evangelist­a 1992 mit Popstar George Michael.

Newspapers in German

Newspapers from Germany