Thüringer Allgemeine (Arnstadt)
Wie auf dem Mond im Nördlinger Ries
Im Südwestdeutschen Stufenland wird eine spektakuläre Kraterlandschaft zum Freilichtmuseum der Erdgeschichte
Nördlingen. Mit 70.000 Stundenkilometern raste der Asteroid auf das heutige Bayern zu. Er prallte auf und löschte alles Leben in dieser Gegend aus. Nach zehn Minuten war alles vorbei, die Landschaft neu „modelliert“: ein Krater mit einem kreisrunden Durchmesser von 25 Kilometern, das Nördlinger Ries. Seit dem Einschlag sind fast fünfzehn Millionen Jahre vergangen. Heute bereitet der fruchtbare Riesenkrater im Westen des Freistaats den Boden für Aktivitäten wie Wandern und Radeln.
Deutlich zeichnen sich die Kraterränder ab, während sich im flachen Becken ein Flickenteppich aus Dörfern und Feldern ausbreitet, Weißstörche aufsteigen, Fuchsien
blühen und in einer Kirche tatsächlich ein Brunnen plätschert.
Die beste Wanderrunde im Ries ist der knapp 20 Kilometer lange Schäferweg mit Start am Nördlinger Freibad Marienhöhe. Mitten im Wald auf dem Galgenberg, der vor Jahrhunderten seinen Namen als Richtstätte bekam, ist der Hexenfelsen die erste Station dieser Wanderung. Der isoliert stehende Dolomitklotz zählt zum inneren Kraterring und dürfte zeitweise als Insel aus dem längst verschwundenen Kratersee geragt haben.
Glasbomben im Gestein säumen den Wanderweg
Nur fachkundige Augen entdecken auf dem Sockel Ablagerungen des Gewässers, ebenso wie ein Stück weiter auf den Gesteinsmassen des Adlersbergs. Unterwegs hilft Geoparkführerin Carolin Schober-mittring, die Blicke zu schärfen. „Wir bewegen uns hier durch ein Freilichtmuseum der Erdgeschichte“, sagt sie und ruft ins Gedächtnis, dass bis in die 1960er Jahre der Irrglaube herrschte, das Ries sei vulkanisch entstanden.
Heute gilt der Einschlagkrater hier als einer der am besten erhaltenen und erforschten weltweit. „Durch den Impakt wurden Steine in ihrer Struktur völlig verändert und kantig gebrochen“, so Schobermittring. Darüber hinaus sei im Ries die Welt förmlich verkehrt, denn: „Die herausgeschleuderten älteren Gesteinsschichten liegen über den jüngeren.“
Unterwegs führt eine Sonderschleife auf dem Lehrpfad Geotop Lindle ins Feuchtgebiet eines einstigen Steinbruchs. Es ist der Lebensraum von Gelbbauchunken. Nebenan gibt eine Aussichtsplattform den Blick auf den Astronauten-steinbruch frei, inzwischen ein Privatgelände.„im August 1970 waren die Astronauten der geplanten Apollo-14-mission zum Feldtraining im Ries, um im Krater zu lernen, was sie auf dem Mond können müssen“, erzählt Carolin Schobermittring. „Astronauten waren ja keine Geologen, deshalb mussten sie hier einen Crashkurs in Geologie kriegen.“Noch heute absolvieren Astronauten der Europäischen Weltraumbehörde (ESA) hin und wieder geologische Übungseinheiten im Ries, wie es auf der Website des Geoparks heißt.
Ein Unikat am Wanderweg ist der Suevit-steinbruch von Altenbürg. Suevit war das wichtigste Impaktgestein im Ries und Baumaterial für viele Gebäude in Nördlingen. Die Glasbomben im Gestein, „Flädle“genannt, entstanden durch die extreme Hitzeeinwirkung beim Einschlag. „Bis zu 30.000 Grad“, sagt Schober-mittring.
Das Schlussstück des Wanderwegs zurück nach Nördlingen versperrt der Riegelberg. Die Gesteinsscholle aus Oberjurakalk glitt vom Kraterrand in den entstehenden
Riesenkrater ab. Durchlöchert ist das kleine Massiv von den Ofnethöhlen, wo sich bereits unsere Urahnen aus der Steinzeit tummelten. Grausig waren archäologische Funde von 33 abgetrennten Erwachsenenund Kinderschädeln aus der Mittelsteinzeit (vor ungefähr 9700 Jahren).
Der Wind fährt durch Apfelbäume und Dinkelfelder
Aktiv im Ries unterwegs zu sein, heißt auch, ab Nördlingen die östliche Radrunde abzustrampeln. 58 Kilometer, weitgehend durch Flachland, zunächst in die Fuchsienstadt Wemding. Hier stammt der Namensgeber der Fuchsien her, der Botaniker Leonhart Fuchs, der im 16. Jahrhundert lebte (1501–1566). In Blumenkübeln blühen von Mai bis September überall Fuchsien, mit denen auch die Blumenpyramide beim Marktplatz bestückt ist.
Die Radroute hat ihren ganz eigenen Klang: Der Wind fährt durch Apfelbäume und Dinkelfelder, und in der Wallfahrtskirche Maria Brünnlein am nordwestlichen Rand von Wemding gluckert Wasser, das Gläubige in Hoffnung auf heilsame Kräfte abzapfen.
Oettingens Stadtrand streift die Wörnitz, die Fackler schon im Kajak befahren hat. Es ist einer der am langsamsten fließenden Flüsse Bayerns, d}er durch das Nördlinger Ries mäandert und in Donauwörth in die Donau mündet. „In den frühen Morgenstunden, wenn der Nebel aufsteigt, kommt fast ein bisschen Dschungelfeeling auf.“
Ob zu Fuß oder per Rad – bei der Rückkehr nach Nördlingen setzt der „Daniel“eine Landmarke. So heißt der Turm der St. Georgskirche, auf den 350 Treppenstufen führen. Er ist der Thron über dem Ries. Tritt man dort hinaus auf den Turmumgang in windige Höhen, bieten sich Prachtblicke über das Ziegeldächermeer der Stadt und auf die waldreichen Kraterränder in der Ferne. Die kosmische Katastrophe, aus der vor Millionen Jahren neues Leben entstand, ist für die Gegend und deren Besucher ein Glücksfall.