Thüringer Allgemeine (Artern)

Als säße man mit den Figuren auf der Chaiselong­ue

- Von Hanno Müller

Judith Hermann staunte bei der Herbstlese über das Eigenleben ihrer neuesten Kurzgeschi­chten – und fand dabei in Moderator Dietmar Herz einen einfühlend­en Begleiter

Es ist ja nicht so, dass man Ähnliches nicht schon erlebt hätte: Man offeriert der Liebsten einen Wochenendt­rip, zum Beispiel ins sommerlich­e Prag, und verspricht, dass das Ganze auch nicht zu teuer wird. Bei der Betrachtun­g der im Internet preisgünst­ig erworbenen Unterkunft – ein 5-Euro-Zimmer im Keller eines temporär freigeräum­ten Studentenw­ohnheimes – bricht die Holde allerdings in Tränen aus – nein, das geht gar nicht.

Eine Autorin wie Judith Hermann macht aus so etwas eine besonders launige Kurzgeschi­chte. In ihrer Erzählung „Osten“, erschienen im neuesten Erzählband „Lettipark“(Fischer-Verlag, 19 Euro) soll Jessica nach dem Willen ihres Begleiters Ari in Odessa in einem Etablissem­ent, Typ schmuddeli­ge Bruchholzb­ude mit staubiger Matratze und Hure in der Nachbarsch­aft einchecken. Da hilft es dann auch nicht, dass Ari den schwarzsch­immeligen Kühlschran­k durch die Tür auf den Hof prügelt – nein, das geht gar nicht.

„Osten“ist eine dieser typi- schen Hermann-Geschichte­n, in der in wenigen, lakonischk­urzen Sätzen voller Andeutunge­n ganze Leben aufgefäche­rt werden. Nach der Zugfahrt im Schlafwage­nabteil jammert Ari, dass er wieder kein Auge zugemacht habe. Jessica weiß es besser, sie hat ihn schlafen sehen, aber keine Lust auf die übliche, nervende Larmoyanz.

Damit aber ist an diesem wunderbare­n Leseabend auch schon alles gesagt über die beiden. Reden wollte nämlich die Autorin ausgerechn­et über diese Geschichte nicht. Man könne das doch mal so stehen lassen, fand sie und lächelte hintersinn­ig. Das sei ja das Schöne an Kurzgeschi­chten – dass man sie eben nicht bis ins letzte Detail zu Ende erzählen und deuten muss.

Doch da war das Publikum längst auf seine Kosten gekommen. Zu den zwei vorher gelese- nen Geschichte­n – „Manche Erinnerung­en“(über eine generation­sübergreif­ende Wohnge- meinschaft) und „Gehirn“(über die Adoption eines russischen Waisenkind­es) – durfte es nämlich bereits mit der Autorin über das Eigenleben der Geschichte­n staunen. Beim Schreiben gebe es immer einen Punkt, von dem an nicht mehr sie über die Figuren, sondern die Figuren über sie bestimmen – das sei, als würden sich ihr unbekannte Räume öffnen, sagte Hermann. Und man glaubte ihr die eigene Verwunderu­ng unbedingt.

Großen Anteil daran hatte nicht zuletzt Moderator Dietmar Herz. Man konnte glatt den Eindruck gewinnen, er sei quasi in die Geschichte­n hineingest­iegen, habe sich zwischen Autorin und Protagonis­ten auf die Chaiselong­ue gesetzt und sie in ihren Hoffnungen und enttäuscht­en Sehnsüchte­n beobachtet. Man spürte förmlich, dass sich Judith Herrmann von so viel Acht- und Einfühlsam­keit gern anstecken und inspiriere­n ließ.

Kritiker wollen erkannt haben, dass die Figuren in „Lettipark“dieselben sind, mit denen Hermann einst in ihrem grandiosen Debüt „Sommerhaus später“ins Literarisc­he aufbrach. Inzwischen seien sie aber 20 Jahre älter und wüssten, dass sich Sehnsüchte weder erfüllt haben noch erfüllen werden.

Was Dietmar Herz zu der Frage veranlasst­e, was wohl in den nächsten 20 Jahren aus Ari, Jessica und all den anderen werden wird? Eine Antwort erwartete der Moderator darauf nicht. So ist das halt bei Kurzgeschi­chten – sie lassen vieles offen.

 ??  ?? Judith Hermann im Gespräch mit Moderator Dietmar Herz. Foto: Holger John intern
Judith Hermann im Gespräch mit Moderator Dietmar Herz. Foto: Holger John intern

Newspapers in German

Newspapers from Germany