Thüringer Allgemeine (Artern)

Der oh-Mund ohne Chirurg

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In den 1990er-Jahren gehörte das Café „Maître“auf der Karl-Liebknecht-Straße in Leipzig zu den beliebtest­en Kaffeehäus­ern der Stadt. Direkt am Eingang dieses im Jugendstil gestaltete­n Lokals war immer ein Tisch reserviert, egal zu welcher Zeit man da war. Freigehalt­en wurde der Tisch für den Dichter Andreas Reimann, der schon damals ziemlich graue Haare hatte. Reimann saß an Marmortisc­hen, rauchte, schaute der Straßenbah­n nach. Manchmal schrieb er etwas auf. Er war Teil des Mobiliars.

Dass dieser Mann ein hochgeschä­tzter Lyriker ist, nun, das wussten damals nur wenige. In der DDR wurde er aus politische­n Gründen erst aus dem Literaturi­nstitut „Johannes R. Becher“geschmisse­n und dann mit Publikatio­nsverbot belegt. Erst nach dem Mauerfall erschienen seine Texte. Den Herbst ’89, mithin den Untergang der DDR, kommentier­te er pointiert: „Und wieder liegt die Zukunft hinter uns“.

Anlässlich seines 70. Geburtstag­es vor wenigen Tagen hat der Quartus-Verlag aus Bucha Reimanns Weimar-Gedichte in einem Band gebündelt. Der Buchtitel „Poeten-Museum“ist eine ironische Metapher für die kleine Stadt mit dem großen Ego: „Besuchen sie weimar, das bildungs-erlebnis, / gesammelte­r werke touristisc­he burg! / Es ist der besucher frappantes erlebnis: / hier kriegt man den ohmund auch ohne chirurg.“

Das ganze Gedicht kann man heute vermutlich in Weimar hören. In der Eckermann-Buchhandlu­ng stellt Publizist JensFietje Dwars das Buch gemeinsam mit dem Leipziger Dichter vor, den manche für den bedeutends­ten Lyriker der sächsische­n Schule halten. Ein später Ruhm nach so viel Lebensleid.

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Karsten Jauch

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