Ein Gossenjargon, der verletzt
Die Landtagsabgeordneten Marion Walsmann und Astrid Rothe-Beinlich streiten im Politik-Talk „Am Anger“über die Glaubwürdigkeit der Politik und das Schulsystem
Erfurt. Zur Politikerin Marion Walsmann ließe sich einiges sagen. Was aber in jedem Fall gilt: Sie besitzt Chupze, was die jiddische Formulierung für charmante Dreistigkeit ist.
Sie kann zum Beispiel, ohne auch nur einziges Mal zu blinzeln, ausführlich darüber philosophieren, dass das Wichtigste in der Politik Glaubwürdigkeit sei. „Sage, was du denkst und tu was du sagst“– dies, so teilt sie zu Beginn der Talk-Show „Am Anger“mit, sei die Grundmaxime ihres Daseins.
Für eine DDR-Juristin, die einst für die Block-CDU in einer sehr unfrei gewählten Volkskammer saß, um danach in der gewendeten Partei geschmeidig Karriere zu machen, ist dies eine sportliche Ansage. Die Pastorentochter Astrid Rothe-Beinlich, die nach ihrer Oppositionszeit gegen den SED-Staat zu den Grünen gelangte, sitzt daneben und quält sich ein Lächeln ab. Später wird sie, wenn sie Walsmann anspricht, oft das Wort „Redlichkeit“nutzen und anmerken, dass „Glaubwürdigkeit im Persönlichen anfängt“.
Es ist die zweite politische Sendung, die gemeinsam von der Thüringer Allgemeinen, Salve-TV und dem Online-Portal Thüringen 24 produziert wurde. Bei der Premiere hatte sich Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke) mit der CDU-Bundestagsabgeordneten Antje Tillmann ordentlich über die Finanzen gestritten. Nun soll es neben der Bildungspolitik insbesondere um die Frage gehen, warum die Glaubwürdigkeit der politischen Institutionen so stark gelitten hat.
Auch wenn der „ThüringenMonitor“, der seit eineinhalb Jahrzehnten die Stimmung im Land misst, kaum Schwankungen bei der Demokratiezufriedenheit feststellte, weisen doch andere Umfragen einen deutlichen Vertrauensverlust hin. Das Ansehen in die Politiker, das sowieso immer schon niedrig war, ist nochmals gesunken – gerade bei der Jugend.
Doch was ist der Grund? Astrid Rothe-Beinlich versucht es mit Abwägen. Politik sei eben oft abstrakt und benötige viel Zeit, sagt sie. Zudem gebe es viele, sehr unterschiedliche Ursachen für die Unzufriedenheit der Bürger, die im Übrigen auch selbst mehr Verantwortung übernehmen könnten.
Das klingt sehr nach protestantischer Christenlehre. Marion Walsmann hingegen ist erkennbar mit dem Plan in das Studio in der Erfurter Innenstadt gekommen, Wahlkampf machen zu wollen.
Nach wenigen Auftaktsätzen wechselt sie in den Angriffsmodus. Sie erinnere sich, sagt sie, noch gut daran, wie die hiesige SPD im Jahr vor der Bundestagswahl 2013 unter ihrem Spitzenkandidaten Carsten Schneider einen gebührenfreien Kindergarten versprach. Doch bis heute sei davon wenig zu sehen. Der von der Sonne beschienene Erfurter Anger bildete die Kulisse für das Streitgespräch zwischen der grünen Landtagsabgeordneten Astrid Rothe-Beinlich (zweite von links) und ihrer CDU-Kollegin Marion Walsmann. Moderiert wurde die Debatte von TA-Chefredakteur Johannes M. Fischer (links) und Salve-TV-Gesellschafter Klaus Dieter Böhm (rechts). Fotos: Salve-TV
Ähnlich, sagt sie, verhalte sich die rot-rot-grüne Koalition im Land beim Thema der direkten Demokratie. Erst lobe sie direktdemokratische Elemente über alles – „und dann klagt man gegen Volksbegehren“. Walsmanns Schlussfolgerung: „Man sollte nichts versprechen, was man nicht halten kann.“
Doch da ist sie bei Rothe-Beinlich gerade richtig. „Wenn ausgerechnet Sie, Frau Walsmann, von direktdemokratischen Elementen sprechen, wo sie die über Jahrzehnte mit der CDU nicht zugelassen haben, aber jetzt, wo sie in der Opposition sind, die direkte Demokratie für sich entdecken, das mag jeder für sich beurteilen.“
Dann legt sie nach: „Wie Carsten Schneider auf die Beitragsfreiheit gekommen ist, müsste man ihn fragen, das gehört zur Redlichkeit dazu. Das macht uns auch nicht glaubwürdiger, wenn wir auf Kollegen mit dem Finger zeigen.“
Die Talk-Show beweist aufs Neue: Es gibt kaum zwei Frauen im Landtag, die unterschiedlicher sind, ob nun in Herkommen, Einstellung oder Habitus – wobei ihnen allerdings ein unerschütterliches Selbstvertrauen gemeinsam ist.
So präsentiert sich RotheBeinlich gleich selbst als Beispiel für besondere Glaubwürdigkeit. Sie besitze, sagt sie, keinen Führerschein, aber ein Fahrrad,
das sie auch gerne nutze, und zwar aus ihrer ökologischen Überzeugung heraus.
Als sie als Vizepräsidentin des Landtages Anspruch auf den Fahrdienst besaß, habe sie ihn nicht genutzt – obwohl es den Vorwurf gab, sie vernichte damit den Arbeitsplatz des Fahrers. „Ich habe das für mich durchgehalten. Ich glaube, das sind so Sachen, wo man sich selber treu bleiben muss.“
Walsmann sagt dazu lieber nichts, was womöglich auch daran liegt, dass sie als Ministerin selbstverständlich die Limousine nebst Chauffeur nahm. Dafür versucht Salve-TV-Gesellschafter Marion Walsmann, heute 54, saß zur Wende für die Blockpartei CDU am Zentralen Runden Tisch, gelangte in den Bundesvorstand der vereinigten Union und baute das Justizministerium in Thüringen mit auf. Seit mehr als 20 Jahren führt sie den mächtigen Kreisverband Erfurt. Die Funktion diente ihr als Basis für den Aufstieg in der Landespolitik. Seit 2004 sitzt sie im Landtag, zwischen 2008 und 2013 gehörte sie als Justiz-, Finanzund Staatskanzleiministerin der Regierung an.
Klaus Dieter Böhm, der gemeinsam mit TA-Chefredakteur Johannes M. Fischer die Sendung moderiert, die Debatte wieder zum Grundsätzlichen zu führen. Warum, fragt er also, haben die Politiker die Verbindung mit den Menschen verloren?
Doch schon die Prämisse mag Walsmann nicht gelten lassen. Ihre Sprechstunde als Landtagsabgeordnete, sagt sie, werde gut besucht. Auch die Wahlbeteiligung steige wieder, wie zuletzt bei der Wahl im Saarland. Der Grund: „Die Leute hatten eine klare Entscheidungsoption. Sie wollten nicht Rot-Rot-Grün.“Die Parteien müssten nur deutlich Astrid Rothe-Beinlich ist mit 43 mehr als zehn Jahre jünger als Walsmann. Sie leitete lange Jahre die Thüringer Grünen und saß im Bundesvorstand. 2009 führte sie ihre Landespartei als Spitzenkandidatin nach 15-jähriger Abstinenz wieder in den Landtag zurück. Dort amtierte sie zuerst als Vizepräsidentin, aktuell ist sie parlamentarische Geschäftsführerin ihrer Fraktion. Auch weil sie Deutsch und Ethik auf Lehramt studierte, engagiert sie sich vor allem für Bildungspolitik.
machen, wofür sie stünden.
Chefredakteur Fischer bleibt skeptisch. Sei es nicht oft so, fragt er, dass sich Politiker unverständlich ausdrückten? Die Menschen könnten ja oft nicht einmal den groben Inhalt der Aussagen verstehen.
Rothe-Beinlich stimmt hier zu. „Wir verfallen oft in eine Sprache, wo viele sagen, da schalte ich spätestens nach drei Sätzen ab, weil ich tatsächlich nicht mitgenommen werde“, sagt sie. „Das müssen wir uns auch selber vorhalten. Wir müssen wieder sehr viel verständlicher werden.“
Und weil die Grüne einmal bei Selbstkritik ist, beklagt sie auch gleich den Verfall der Sitten im Parlament. „Diese Verrohung betrübt mich wirklich, ja sie nimmt mich körperlich mit.“Im Landtag gebe es neuerdings eine Diskussionskultur, „die Menschen wirklich verletzt“. Mit der AfD sei auch „der Gossenjargon“ins Parlament eingezogen, auf allen Seiten. „So laden wir sicher keine Menschen ein, sich politisch zu beteiligen.“
Klaus Dieter Böhm hegt noch einen anderen Verdacht. Es habe sich, sagt er, eine Art Ankündigungskultur in der Politik entwickelt. Ständig werde über Vorhaben geredet, die dann viel später oder gar nicht umgesetzt würden. Koste dies nicht auch Vertrauen?
Doch an dieser Stelle sind sich
die beiden Politikerinnen ausnahmsweise einmal einig – und zwar in der Ablehnung der These. Es gehöre nun mal in einer Demokratie dazu, dass man die Dinge auch etwas länger diskutiere, sagt Walsmann. Das beginne beim Wahlprogramm und ende beim Gesetz.
„Parlamentarische Abläufe sind von außen oft schwer zu verstehen“, assistiert RotheBeinlich. So sei bei Gesetzen die Anhörung aller Beteiligten notwendig. Den Beratungen in der Verwaltung und im Kabinett folgten die Debatten im Landtag und dessen Ausschüssen. Dies alles könne schwerlich abgekürzt werden.
Am Ende des Gesprächs gelangt man wieder zum beitragsfreien Kindergarten-Jahr – das, wie Rothe-Beinlich bekräftigt, ab dem nächsten Jahr kommen wird. Insofern werde das Versprechen auch gehalten.
Allerdings, gibt die Abgeordnete zu, sei das mit der Gebührenfreiheit „eine sehr ambivalente Geschichte“. Zum einen wäre es aus pädagogischer Sicht besser, das erste und nicht das letzte Kita-Jahr beitragsfrei zu stellen. Zum anderen müssten eigentlich mehr Erzieherinnen eingestellt werden.
Hier klingt Rothe-Beinlich schon fast wie die Opposition – was allerdings an ihren parteipolitischen Präferenzen nichts ändert. Denn als TA-Chefredakteur
Fischer die Koalitionsoption Schwarz-Grün anspricht, ist das Entsetzen der Abgeordneten groß.
„Das wird nicht passieren mit uns“, dekretiert Rothe-Beinlich. Als die CDU-Frau ein „Man sollte nie Nie sagen“einschiebt, wird die Grüne scharf: „So flexibel wie Sie bin ich nicht, Frau Walsmann.“Diesen Satz, das ist sehr deutlich zu spüren, wollte sie noch gesagt haben. ▶ Über Kabel in 250 000 Haushalten in 70 Thüringer Orten, so in Erfurt, Weimar, Jena, Eisenach.
▶ Die Sendung wird heute um 18.20 Uhr das erste Mal ausgestrahlt – und danach mehrfach im Programm wiederholt.
▶ Im Internet ab heute