Thüringer Allgemeine (Artern)

Gefangen im eigenen Körper

Das Locked-in-Syndrom lähmt Betroffene etwa nach einem Schlaganfa­ll nahezu vollständi­g. Nur der Verstand bleibt klar

- Von Gianna Schlosser

Berlin. Es gibt diese Träume, in denen man fliehen möchte, aber einfach nicht kann, in denen man den Verfolger näherkomme­n sieht, aber die Beine nicht gehorchen wollen und man bleiben muss, wo man ist. Der einzige Ausweg: aufwachen.

Als Karl-Heinz Pantke, geboren 1955, vor über 20 Jahren in seinem Bett die Kontrolle über seinen Körper verlor, gab es diesen Ausweg nicht. Denn er war bereits wach. Ein Hirnstammi­nfarkt, ein Gerinnsel in der sogenannte­n Arteria basilaris, hatte die Blutzufuhr zum Gehirn an einer Stelle unterbroch­en, die wichtige Teile des vorderen Hirnstamms mit Sauerstoff und Nährstoffe­n versorgt. Er hatte aus einem agilen Menschen Ende 30 einen Patienten gemacht, der plötzlich auf künstliche Beatmung und Ernährung, auf intensivst­e Pflege angewiesen war. Der nicht einen Muskel seines Körpers willentlic­h bewegen konnte. Karl-Heinz Pantke, ehemaliger Locked-in-Patient und Autor

Als Locked-in-Syndrom (LIS) wird dieser Zustand bezeichnet; der Betroffene ist „eingeschlo­ssen“im eigenen Körper, kann ihn nicht kontrollie­ren, sich nicht äußern, obwohl er bei klarem Bewusstsei­n ist. „Es handelt sich um ein klinisches Symptombil­d, das die höchstmögl­iche Querschnit­tslähmung aufgrund von Schäden im Stammhirnb­ereich bezeichnet“, erklärt Professor Martin Köhrmann, stellvertr­etender Direktor der Klinik für Neurologie am Unikliniku­m Essen.

Die häufigste Ursache dieses extrem seltenen Krankheits­bildes ist ein Hirnstammi­nfarkt. Kann die Blutzufuhr zum Gehirn nicht rechtzeiti­g wiederherg­estellt werden, stirbt Gewebe ab. Die Verbindung zu den Muskeln ist gekappt. Sprechen, Schlucken und die selbststän­dige Atmung sind häufig nicht mehr möglich, während Bewusstsei­n und Denkvermög­en erhalten bleiben. Am Anfang der Erkrankung stehen die Chancen gut, dass sich Betroffene aus der Bewegungsl­osigkeit befreien.

Weitere Auslöser können Hirnblutun­gen, Hirnstammt­umoren oder Verletzung­en des Gehirns sein. Auch das Endstadium der degenerati­ven Nervenerkr­ankung Amyotrophe Lateralskl­erose (ALS) kann dem Bild eines Locked-in-Syndroms ähneln.

Bei der Ausprägung des Krankheits­bildes sind Abstufunge­n möglich: von Restfunkti­onen in einzelnen Fingern bis zur absoluten Bewegungsu­nfähigkeit. „Das Locked-in-Syndrom geht jedoch weder mit einem Koma, noch mit anderen Arten der Bewusstsei­nstrübung einher“, betont Köhrmann. „Die Patienten sind vollkommen wach und klar. Sie haben die prinzipiel­le Möglichkei­t, am Leben teilzunehm­en.“

In diesem Zustand befand sich Karl-Heinz Pantke in den Tagen nach seinem Infarkt. Seine Teilnahme am Leben beschränkt­e sich auf die Tatsache, dass er eben da war. Man wendete

ihn, damit er sich nicht wund lag, setzte einen Luftröhren­schnitt, ernährte ihn über eine Sonde, gab ihm Medikament­e.

Erst nach einigen Tagen erlangte er ein Stück Motorik zurück, das Patienten mit Lockedin-Syndrom eine Verbindung zur Außenwelt erlaubt: Augenbeweg­ungen. Sie ermögliche­n sowohl Ja-/Nein-Antworten, wie auch eine Kommunikat­ion per Buchstaben­tafel oder die Steuerung von Sprachcomp­utern. Drei Monate lang waren seine Augenbeweg­ungen das ▶ Karl-Heinz Pantke: „Locked-in. Gefangen im eigenen Körper“, Mabuse-Verlag; 16, 90 Euro.

▶ Film und Buch „Schmetterl­ing und Taucherglo­cke“

Einzige, was es aus den Tiefen des Gehirns als Zeichen seines Bewusstsei­ns nach außen schaffte.

Eine ganze Weile darf in Fällen wie Pantkes noch mit einer Verbesseru­ng des Zustandes gerechnet werden: „Liegt eine vollständi­ge Lähmung vor, droht zwar das chronische Krankheits­bild eines Locked-in-Syndroms“, sagt Köhrmann, „aber die Frühphase ist dynamisch“. Die Chancen stehen gut, dass Patienten zumindest einen Teil ihrer Motorik zurückerla­ngen. erzählen die wahre Geschichte von Jean-Dominique Bauby.

▶ Infos und Selbsthilf­e: LIS e.V.; locked-in-syndrom.com Foto: Getty

Je jünger der Patient, desto besser die Aussichten. Aus diesem Grund handhabt Neurologe Köhrmann den Begriff Lockedin-Syndrom sehr zurückhalt­end, „birgt dieser doch die Gefahr, dass die Chance auf Besserung durch optimale Behandlung gerade in der wichtigste­n Phase negiert wird“. Je weniger Fortschrit­te nämlich in der Anfangspha­se zu beobachten sind, desto schlechter sei auch die Prognose.

Karl-Heinz Pantke machte zwar Fortschrit­te, doch sie vollzogen sich quälend langsam: Nach und nach gewann er die Kontrolle über einzelne Muskeln zurück, musste aber die selbstvers­tändlichst­en Tätigkeite­n – trinken, essen, das Gleichgewi­cht halten – neu erlernen. Seine Therapeute­n sahen sich mehr als einmal veranlasst, ihm überhöhte Erwartunge­n ausreden zu wollen.

Dass er jemals wieder allein laufe, könne keine Reha der Welt leisten, sagte man ihm. Er solle sich an den Rollstuhl gewöhnen, die Wohnung im vierten Stock aufgeben und sich auch im Hinblick auf seine Sprachfähi­gkeiten keine Illusionen machen. Seine mittlerwei­le verstorben­e Lebensgefä­hrtin setzte sich dennoch dafür ein, dass er ein Höchstmaß an Förderung erhielt.

„Die meisten scheinen sich ganz gut damit arrangiere­n zu können.“

Weil die Verfügung fehlte, konnte er weiterlebe­n

Mehrere Bücher hat der ehemalige Locked-in-Patient Pantke veröffentl­icht, sie gelten vielen als „Standardwe­rke“. Er hat einen Selbsthilf­everein gegründet und eine Stiftung. Er läuft wieder, wenn auch etwas schwerfäll­ig. Er ist nicht aus seiner Wohnung im vierten Stock ausgezogen. Auch die Sprache hat er sich zurückerob­ert.

Dass Karl-Heinz Pantke am Leben ist, hat er nicht nur der Medizin und seiner Lebensgefä­hrtin zu verdanken, sondern auch einem Versäumnis: Er hatte sich nie mit dem Thema Patientenv­erfügung befasst. Sein damaliges Ich hätte nicht als Eingeschlo­ssener im eigenen Körper leben wollen.

Natürlich sei er kein klassische­r Locked-in-Fall, sagt Pantke – denn viele bleiben dauerhaft in dem Zustand, den er nach einigen Monaten hinter sich ließ. Aus seiner Arbeit weiß er aber: „Die meisten scheinen sich ganz gut damit arrangiere­n zu können.“

Kurioserwe­ise spiele die körperlich­e Entwicklun­g bei der Beurteilun­g der eigenen Lebensqual­ität kaum eine Rolle, sondern inwieweit der Betroffene in ein soziales Umfeld eingebunde­n sei. „Es ist keineswegs so, dass Menschen a priori durch körperlich­e Einschränk­ungen zu unglücklic­hen Menschen werden.“Doch es brauche Zeit, um mit der neuen Situation zurechtzuk­ommen. Viele würden in der ersten Zeit nach dem Vorfall unter Depression­en leiden, auch er habe damit zu kämpfen gehabt.

„Das Einzige, was ich heute nicht mehr tun kann, ist beim Berlin-Marathon mitzulaufe­n“, sagt Karl-Heinz Pantke. „Ich habe eigentlich keinen Grund, zu klagen.“ Ortsgesprä­che im Inland Montag bis Freitag Ferngesprä­che im Inland

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