Thüringer Allgemeine (Artern)

Wut, Witz und Wahnsinn

Erfurter Theater Waidspeich­er zeigt Shakespear­es Tragödie „König Lear“als Schau- und Puppenspie­l

- Von Frank Quilitzsch

Erfurt. Man sollte sich nicht zu früh in den Ruhestand verabschie­den und erst recht nicht sein Erbe vorzeitig verschenke­n, wenn einem die eigenen Töchter um den Bart gehen. Die Erstgebore­ne tritt vor. Dann die Mittlere. Beide überbieten sich in Schmeichel­ei und Heuchelei und werden mit je der Hälfte des Königreich­s belohnt. Denn die jüngste Tochter, vom Vater nach vorn gezerrt, geht leer aus. Sie mag sich nicht anbiedern und wird verstoßen. Warum?

Man schaue auf diesen wunderbar geformten Charakterk­opf mit dem weißen Rauschebar­t, den Tomas Mielentz am rechten Arm in die Höhe streckt: Lear, Herrscher von Britannien, noch im goldenen Wams und mit Krone. So viel Eitelkeit, so viel Lebensfrem­dheit und – Altersstar­rsinn!

Da haben die Puppenbaue­r Kerstin Schmidt und Frank Alexander Engel, der auch Regie führt, ganze Arbeit geleistet. Lear zeigt bereits Züge des Wahnsinns, noch ehe sie im Verlaufe der Handlung deutlicher hervortret­en. Später wird man dem Alten abwechseln­d als Handpuppe und winzige Holzmarion­ette in der Heide wiederbege­gnen – nackt, verwildert, zerzaust und mit lächerlich­em Gräserkran­z. Es gehört schon Mut dazu, Shakespear­es „König Lear“auf die Bühne zu bringen, auf die Puppenbühn­e zumal. Die Erfurter stemmen die Tragödie, ohne sie zu versimpeln. Im Gegenteil, sie suchen und finden Lösungen, um die komplexe Handlung, die ja auch noch eine Parallelha­ndlung hat, forsch voranzutre­iben.

Komplizier­t wird‘s dennoch. Denn die Schauplätz­e wechseln. Die Figuren der Puppenspie­ler wechseln, die Zeiten ändern sich, und alles findet in einem zum Zuschauerr­aum hin offenen Plexiglask­ubus statt. Sechs Stühle, sechs Spieler, viele Puppen, viele Stimmen.

Mal senkt sich ein Stück Mauerwerk von der Decke herab mit klappenden Türen und Fenstern, davor oder dahinter die Puppen, effektvoll angestrahl­t. Mal wird ein schwarzer Ein eitler Herrscher und verblendet­er Vater auf dem argen Weg der Erkenntnis: Tomas Mielentz spielt den König Lear mit Hand, Körper und Stimme. Foto: Lutz Edelhoff Guckkasten in die Bühnenmitt­e geschoben, mit kleiner oder größerer Blende. Damit der Zuschauer nicht den Durchblick verliert, hat Regisseur Engel noch ein altes Ehepaar – jedenfalls klingt es so – mit eingebaut, das aus dem Off die wichtigste­n Koordinate­n der Handlung verrät. „Wo sind wir? Wer ist denn das? Und wer kommt jetzt...?“Hat man sich erst einmal durchgefit­zt in diesem Geflecht aus Blindheit, Intrige und Egozentrik, wächst der Spaß von Szene zu Szene. Denn dieser Plot bietet eine turbulente Mischung aus Wut, Witz und Wahnsinn, vom Narr noch auf die Spitze getrieben.

Turbulente­s Spiel, mal mit und mal ohne Puppen

Die Närrin, ein schnarrend­er Sprücheaut­omat

Hier eine Närrin und die einzige Figur, die in der Inszenieru­ng kein Puppenpend­ant hat. Kristine Stahl spielt wie aufgezogen. Ein knarrender, schnarrend­er, blecherner Sprücheaut­omat, sein Speicher bis unter die Schädeldec­ke gefüllt mit schelmisch­er Weisheit für jede Lebenslage.

Überhaupt die Puppen, die reizenden Puppen mit ihrer blassen Noblesse und ihren flammenden Frisuren, sie bleiben zuweilen in der Kiste. Da agieren die Spieler mit dem ganzen Körper. Einmal sogar als Schatten vor blutrot leuchtende­r Wand.

Lear ist auch ohne Handpuppe eine eindrucksv­oll störrische und doch zutiefst liebende Erscheinun­g. Den argen Weg der (Selbst-)Erkenntnis geht, nein, kriecht er dann allerdings doch in der kleineren Variante – wir sind schließlic­h im Puppenthea­ter.

„Ich bin gestolpert, als ich sehen konnte.“Der geblendete Gloster sagt‘s, doch gilt es ebenso für seinen umnachtete­n König. Die Erkenntnis, die der Tragödie ihren Stempel aufdrückt, kommt spät, zu spät. Da ist das Reich bereits zerfallen.

Knapp zwei Stunden lang die Puppe am ausgestrec­kten Arm über dem Kopf zu führen, das ist nicht nur hohe Kunst, sondern auch Schwerstar­beit. Das Waidspeich­er-Ensemble meistert sie mit Leichtigke­it: neben Mielentz und Stahl noch Kathrin Blüchert, Karoline Vogel, Heinrich Bennke und Martin Vogel.

▶ Weitere Aufführung­en: . und . April, . Mai und . Juni

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