Thüringer Allgemeine (Artern)

Genosse Jonathan

Von der wundersame­n Wiederbele­bung der SPD an einem ihrer Gründungso­rte. Ein Besuch in Eisenach

- Von Martin Debes

Eisenach. Die thüringisc­he Sozialdemo­kratie riecht an diesem Abend etwas muffig, nach alter Holzverkle­idung, aufgewärmt­en Würstchen und Menschen im Feierabend. Jonathan Rossbach hat sich an die hinterste Ecke des langen Tisches gesetzt und hört zu, wie gerade jemand sagt: „Martin Schulz ist genau das, was wir uns immer gewünscht haben.“

Die örtlichen Sozialdemo­kraten haben sich im zweiten Stock des Hauses „Goldener Löwe“versammelt, um über den dräuenden Bundestags­wahlkampf zu beraten. Auch die Freunde aus dem benachbart­en Wartburgkr­eis sind da; aus dem Unstrut-Hainich-Kreis ist eigens der Landrat angereist. Man sagt Genosse zueinander.

Genosse Jonathan fällt auf in der Runde. Er ist 14 Jahre alt. Jünger geht es nicht in einer deutschen Partei. Obwohl er noch längst nicht den Bundestag wählen darf, will er doch mitschreit­en, Seit’ an Seit’ und so weiter.

Doch warum? Hat man mit 14 Jahren nichts anderes zu tun? Jonathan wird noch bisschen röter im Gesicht, erzählt aber dann recht selbstbewu­sst von seiner Familie, in der schon immer über Politik geredet wurde und darüber, dass man jetzt, da die Flüchtling­e da seien, nicht mehr an der Seite stehen könne. Der Rest der Begründung steht sehr groß auf seinem Kapuzenpul­lover: „FCK NZS“. Fuck Nazis.

Doch warum nun die SPD? „Ich habe das nach dem Ausschluss­prinzip entschiede­n“, sagt er und versucht sich an einem Grinsen. Die CDU kam für ihn nicht infrage, die Grünen existieren in dem kleinen Dorf Seebach nahe Eisenach eher nicht. Also die Sozialdemo­kraten.

Am großen Tisch im „Goldenen Löwen“ist man gerade dabei, das zu reflektier­en, was in der politisch-medialen Blase der Schulz-Effekt genannt wird. Alle sollen reihum mitteilen, was sie davon halten, dass sie nun einen neuen Parteivors­itzenden und Kanzlerkan­didaten haben.

Kein Bild ist zu hoffnungsf­roh, um nicht hervorgeho­lt zu werden. „Es weht ein neuer Wind durch die Partei“, sagt einer. „Jetzt ist Bewegung drin“, ein zweiter. „Wir haben ein Stück unserer Seele wiedergewo­nnen“, ein dritter.

Jonathan nippt nervös an seiner Vita-Cola, bevor er an der Reihe ist. „Schulz ist etwas Neues“, sagt er. „Der will etwas verändern.“Am Tisch nickt es freundlich. Dann bekommt er sein Parteibuch überreicht, das sehr rot leuchtet.

Nun ist es so, dass es in den vergangene­n Jahren in der Thüringer SPD ziemlich selten vorkam, dass ein 14-Jähriger vom Dorf vorbeikam und Mitglied werden wollte. Im Gegenteil: Die Partei drohte langsam auszusterb­en. In Eisenach, wo mehr als 40 000 Menschen leben, Für den Weltfriede­n und die Sozialdemo­kratie: Die Junggenoss­en Jonathan Rossbach (links) und Florian Kellerer, der erst  ist. Fotos: Martin Debes

zählt der Ortsverban­d nur noch etwa 60 Mitglieder. Gerade einmal vier der 36 Stadträte werden von der SPD gestellt, der sozialdemo­kratische Oberbürger­meister ist längst von einer Linken abgelöst.

Und Eisenach ist überall in Thüringen. Die Landespart­ei hat inzwischen weniger als 4000 Mitglieder, bei der letzten Landtagswa­hl im Jahr 2014 stürzte sie auf 12,4 Prozent ab. Damit hat sie es in die nationalen Top Ten der schlechtes­ten Wahlergebn­isse der Nachkriegs­zeit geschafft.

Aber jetzt gibt es ja Martin

Schulz. Jonathan Rossbach ist nur einer von mehr als 100 Menschen, die seit Januar in die Landespart­ei eingetrete­n sind. Tendenz steigend. „Schon jetzt haben wir so viele Neumitglie­der wie im gesamten vergangene­n Jahr“, sagt Michael Klosterman­n, der Bundestags­kandidat. Eine Situation wie jetzt habe er das letzte Mal erlebt, als er selbst in die Partei eintrat, damals, im Frühjahr 1998, als sich Gerhard Schröder daran machte, Kanzler zu werden.

Klosterman­n hat die SPD seitdem nicht mehr losgelasse­n, und die SPD nicht ihn. Er ließ Am Gründungso­rt: Neben Luther und Bach kann man in Eisenach auch einiges über die SPD lernen.

sich in den Stadtrat von Eisenach wählen, arbeitete in der Erfurter Ministeria­lbürokrati­e und kandidiert­e erfolglos für den Bundestag. Inzwischen ist er Geschäftsf­ührer der Landespart­ei.

Er erinnert sich noch gut daran, wie die Thüringer Sozialdemo­kraten damals vom Schröder-Effekt profitiert­en. Auch wenn sie bei Landeswahl­en verloren, landeten sie doch bei den Bundestags­wahlen vor der CDU und gewannen fast alle Wahlkreise.

Der Parteigesc­häftsführe­r setzt auf den Umstand, dass der ostdeutsch­e Wähler ein besonders wechselhaf­tes Wesen besitzt. In einer Region, in der besonders wenige politische und soziale Milieus existieren, könnten sich die Verhältnis­se plötzlich umkehren, sagt er. Stehe der richtige Mann auf Platz 1, sei alles möglich – gerade in Thüringen, „dem Geburtslan­d der Sozialdemo­kratie“.

Tatsächlic­h ist Eisenach ein Gründungso­rt der SPD. Klosterman­n hat seine Magisterar­beit über das Haus geschriebe­n, an dem er an diesem Abend sitzt. Im „Goldenen Löwen“schlossen sich 1869 mehrere Splittergr­uppen und Vereine zur Sozialdemo­kratischen Arbeiterpa­rtei zusammen. Die SDAP war die erste Partei, die sich sozialdemo­kratisch nannte.

„Die heutigen politische­n und sozialen Zustände sind im höchsten Grade ungerecht und daher mit der größten Energie zu bekämpfen“, lautete die wichtigste Forderung. Später, 1875, schloss sich in Gotha die SDAP mit dem Allgemeine­n Deutschen Arbeiterve­rein zusammen. In Erfurt wurde dann 1891 das wohl wichtigste Programm in der Parteigesc­hichte beschlosse­n.

Doch von diesen großen Zeiten zeugen nur noch Museen und Gedenktage. Auch im „Goldenen Löwen“gibt es ein Museum. Etliche Schautafel­n stehen herum, auf denen jede Menge Kanzler und Vorsitzend­e abgebildet sind. Auch Schröder ist dabei. Es gibt sogar eine AugustBebe­l-Gesellscha­ft, deren Vorsitzend­er, wie kann es anders sein, Michael Klosterman­n ist.

Oben, im Tagungsrau­m, werden gerade die Würstchen ausgeteilt, während der Parteigesc­häftsführe­r den Genossen von der Eintrittsw­elle berichtet, die dann doch eher wie ein Schwapp wirkt. Zwei Neumitglie­der gibt es in Eisenach, vier in Mühlhausen, fünf in Bad Langensalz­a. „Das ist sensatione­ll“, sagt Klosterman­n.

Einer der Frischgeno­ssen aus Langensalz­a ist Marcel Ring, 31. Er habe schon immer die SPD gewählt, sagt er. Aber das reiche ihm nicht mehr. „Gerade wir sollten ein bisschen mehr bewirken. Wer, wenn nicht wir.“Schließlic­h stehe ja überall die AfD vor der Tür.

Bei den Landtagswa­hlen lag die Partei, deren Landeschef ein gewisser Björn Höcke ist, nur zwei Prozentpun­kte hinter den Sozialdemo­kraten. In den Umfragen liegt sie längst darüber. Es drohen Verhältnis­se wie in Sachsen-Anhalt, wo die AfD doppelt so stark ist wie die SPD.

Harald Zanker, der Landrat aus dem Unstrut-Hainich-Kreis, sieht es ganz pragmatisc­h. „Wir sollten die Stimmung jetzt nutzen“, sagt er. Sonst könnte sie auch wieder vergehen.

Die Vorsicht teilen die meisten Anwesenden im Raum, sie haben schon zu viel erlebt. „Das mit Martin Schulz kann sich schnell abnutzen“, sagt einer. „Wir müssen aufpassen“, ein anderer.

Die Warnsignal­e sind deutlich genug, das mäßige Ergebnis im Saarland ist nur eines davon. Doch als das entscheide­nde Problem wird in Eisenach die große Koalition gesehen. Sie, sagen die meisten hier, dürfe keinesfall­s fortgesetz­t werden. So wie in Thüringen 2014 müsse sich die SPD von der Union frei machen. Sie müsse es diesmal aber auch vorher sagen, damit die Menschen wüssten, was sie wählten.

Dann sind großen Reden gehalten und die Würstchen gegessen. Jetzt soll es endlich um den Wahlkampf gehen. Genosse Jonathan packt sein rotes Parteibuch ein, steht auf, nickt in die Runde und geht. SPD hin, Schulz-Effekt her: Er hat am nächsten Tag Schule.

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