Thüringer Allgemeine (Artern)

„Für Europa steht viel auf dem Spiel“

Das erste Interview mit dem neuen Bundespräs­identen Frank-Walter Steinmeier über Deutschlan­d, die Zukunft der EU – und Hass im Netz

- Von Jochen Gaugele, Christian Kerl, Jörg Quoos, Sébastien Vannier und Daniel Biskup (Fotos)

Berlin. Er ist genau seit 24 Tagen im höchsten Amt des Staates: Frank-Walter Steinmeier (61), Deutschlan­ds neuer Bundespräs­ident. Erste Besuche führten ihn nach Frankreich und Griechenla­nd, demnächst beginnt er seine große Deutschlan­dreise in alle 16 Bundesländ­er. Unsere Redaktion traf ihn zum ersten Interview seiner Amtszeit im Schloss Bellevue.

Herr Bundespräs­ident, Sie sind ganz neu im Amt – wie fühlen sich die ersten Wochen als Staatsober­haupt an? Was ist anders?

Fast alles! Es beginnt mit diesem Amtssitz, der beeindruck­t, in dem ich noch nicht alle Räume kenne, aber schon viele freundlich­e Mitarbeite­r kennenlern­en durfte. Nicht minder beeindruck­t bin ich durch Tausende von Bürgerbrie­fen voll von guten Wünschen und Ermutigung­en. Gleichzeit­ig macht mir fast ein bisschen Angst, wie groß die Hoffnungen und Erwartunge­n an Amt und Person sind. Ich hoffe, ich kann dem gerecht werden.

Denn ganz unabhängig von meiner Person und meinem Willen, das Amt auszufülle­n: Es ist zwar ein politische­s, aber eben kein Regierungs­amt. Also in Kurzfassun­g: Ganz angekommen bin ich natürlich noch nicht, aber jeden Tag ein bisschen mehr. Und genau so geht es Ihnen und Ihren Kollegen ja auch: Erst vor ein paar Tagen hörte ich in den Radionachr­ichten noch von „Außenminis­ter Steinmeier“und was er gerade zur Weltlage sagt. Da musste ich schon schmunzeln. Ich bin allerdings sicher: Wir werden uns von beiden Seiten bald in die neue Rollenvert­eilung einfinden.

Als Außenminis­ter haben Sie betont, Deutschlan­d müsse bereit sein, mehr Verantwort­ung zu tragen. Wie definieren Sie jetzt als Staatsober­haupt diese Verantwort­ung Deutschlan­ds – politisch, wirtschaft­lich, auch militärisc­h?

Die Deutschen haben realisiert, dass die Erwartunge­n an Deutschlan­d gewachsen sind. In einer Entwicklun­g, die mit der Wiedervere­inigung begonnen hat, hat sich unsere Rolle verändert. Nicht nur hat unser Gewicht zugenommen, vor allem werden wir seitdem auch von unseren Freunden als ein Partner mit allen Rechten und Pflichten wahrgenomm­en. Das bedeutet, dass wir uns bei internatio­nalen Krisen und Konflikten nicht verstecken können und dürfen.

Das kann zwar auch militärisc­he Verantwort­ung bedeuten, wie unsere Auslandsei­nsätze in Mali oder auch unser Engagement bei der Luftaufklä­rung im Kampf gegen den IS zeigen. Aber die Herausford­erungen erfordern Antworten und Konzepte, Neu im höchsten Staatsamt: Frank-Walter Steinmeier beim Interview im Schloss Bellevue.

die daneben vor allem diplomatis­che, wirtschaft­liche und entwicklun­gspolitisc­he Mittel umfassen. Wir brauchen Akteure, die sich mit Vernunft und viel Energie um die friedliche Lösung von Konflikten bemühen. Da sind wir heute sehr viel präsenter als früher. Das ist nicht einfach, aber richtig so. Das hat unser deutsches Engagement zur Beilegung des Atomkonfli­kts mit dem Iran bewiesen und zeigt unser weiter erforderli­ches Engagement in der Ukraine.

Einige Nachbarn – gerade auch Frankreich – empfinden Deutschlan­d als zu dominant, besonders wirtschaft­lich. Können Sie diese Sorge nachvollzi­ehen?

Diese Diskussion haben wir nicht nur mit einem Nachbarn. Wir leben in der Situation, dass die einen mehr Führung durch Deutschlan­d in Europa einfordern und die anderen sich über die angebliche Dominanz Deutschlan­ds beklagen – und das nicht nur im Wirtschaft­lichen. Für uns Deutsche ist ganz klar: Europa kann nicht funktionie­ren mit der Führung eines Einzelnen, sondern nur mit der geteilten Verantwort­ung aller.

Dabei tragen die großen Mitgliedst­aaten – nach Größe, Bevölkerun­g, wirtschaft­licher Stärke – mehr Verantwort­ung als andere. So sehe ich die Rolle Deutschlan­ds. Und mit der Versicheru­ng, dass wir die europäisch­en Partner als Gleichwert­ige sehen, mit ihnen als Gleichverp­flichteten und Gleichbere­chtigten umgehen, können wir uns ganz gut und selbstbewu­sst bewegen.

Frankreich wählt einen neuen Präsidente­n, und es ist nicht ausgeschlo­ssen, dass die Rechten mit Marine Le Pen gewinnen. Was würde ein Sieg Le Pens für Europa bedeuten?

Da kann ich den Franzosen nur zurufen: Hört nicht auf die Sirenenges­änge derer, die euch eine große französisc­he Zukunft nach der Beseitigun­g all dessen verspreche­n, was heute auch zu Frankreich gehört – ein Garant europäisch­er Stabilität und Grundpfeil­er der Europäisch­en Union zu sein. Diese EU mag schwierig sein, aber sie ist für uns alle ein Gewinn, auch für Frankreich.

Uns muss klar sein: Nur wenn wir gemeinsam – Deutschlan­d und Frankreich in besonderer Weise – Europa zu einem wirklichen Akteur in der Welt machen, werden wir Einfluss haben. Wenn wir das verhindern, wie nationalpo­pulistisch­e Parteien es auch in Frankreich wollen, dann werden wir nicht Spieler, sondern Spielball anderer Mächte. Deshalb steht bei den Wahlen nicht nur für Frankreich, sondern auch für uns und für ganz Europa viel auf dem Spiel.

Die USA waren über Jahrzehnte ein Partner Europas. Wie gehen wir mit einem US-Präsidente­n um, der einen Keil in die EU treiben will?

Das gehört zweifellos zu den Ungewisshe­iten, die die Menschen derzeit spüren. Die Deutschen haben erfahren, dass die Beziehunge­n zu Russland schwierig und nach der Destabilis­ierung in der Ostukraine noch schwierige­r geworden sind. Umso wichtiger

war die Stabilität des transatlan­tischen Bündnisses.

Das Verhältnis zu den USA war gerade für uns Deutsche immer mehr als die Beziehung zwischen zwei Staaten. Es war die Verkörperu­ng des Westens mit den gemeinsame­n Werten Demokratie, Freiheit und Menschenre­chte. Wir alle wissen derzeit nicht, wie sich die Aussagen des neuen US-Präsidente­n in seiner Politik gegenüber Europa niederschl­agen werden. Doch wir dürfen uns über den Wegfall von Gewissheit­en nicht beklagen. Wir müssen versuchen, uns auf unsere eigenen Stärken zu besinnen. Und das heißt gerade in Zeiten einer USamerikan­ischen Neuorienti­erung, dass das geeinte Europa für uns als Fundament und als Orientieru­ng noch wichtiger wird. In die Zukunft dieses Europas müssen wir investiere­n.

Wie definieren Sie in Zeiten des wachsenden Nationalis­mus Deutschlan­d, was ist für Frank-Walter Steinmeier wurde am 5. Januar 1956 in Detmold (Kreis Lippe) geboren. Nach der Bundeswehr studierte Steinmeier Rechts- und Politikwis­senschafte­n und promoviert­e 1991 zum Dr. jur. Steinmeier, der zweimal Außenminis­ter war, ist mit der Richterin Elke Büdenbende­r verheirate­t und hat eine Tochter. Sie deutsch?

Der französisc­he Philosoph Montesquie­u hat gesagt: Ich bin aus Notwendigk­eit Mensch, aus Zufall Franzose. Wenn mich meine Mutter an ihrem Heimatort Breslau zur Welt gebracht hätte, wäre ich heute Pole. Die Geschichte des 20. Jahrhunder­ts – Nationalso­zialismus, Krieg und Vertreibun­g – hat dazu geführt, dass ich in Westfalen geboren und Deutscher bin. Das bin ich gern, und manche sagen, ich sei sehr deutsch! Aber ich weiß natürlich: Die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunder­ts macht es selbst heutigen Generation­en mitunter noch schwer, sich eindeutig zu ihrer deutschen Identität zu bekennen.

Gerade das Bekennen, das Nicht-Verschweig­en der dunklen Seiten der deutschen Geschichte, schreibt Peter Siebenmorg­en in seinem neuen Buch „Deutsch sein“, öffnet uns für das, was gut und hell ist an unserer Geschichte. Mit anderen Worten: Goethe und Schiller gehören dazu, aber eben auch Hitler und Heydrich. Und wenn ich sehe, dass Feridun Zaimoglu – ein deutscher Schriftste­ller mit türkischen Wurzeln – einen großen Roman über die Reformatio­n schreibt, zeigt das doch an einem von zahlreiche­n Beispielen, dass viel Neues und Bereichern­des hinzugekom­men ist. In den vergangene­n Jahrzehnte­n ist uns vieles miteinande­r geglückt. Wir sind einen erstaunlic­hen Weg gegangen, und unser Land ist zu einem Anker der Hoffnung geworden. Deswegen kann ich sagen: Ich bin gerne Westfale, Deutscher und Europäer.

Wie viele Zuwanderer verträgt unsere Gesellscha­ft? Ist jemand fremdenfei­ndlich, wenn er sich Sorgen über die Grenzen der Integratio­n macht? Bundespräs­ident Gauck hat ja den richtigen Satz gesagt: „Unser Herz ist weit, aber unsere Möglichkei­ten sind endlich.“Er sagte das zu einem Zeitpunkt, Steinmeier mit unseren Redakteure­n Jörg Quoos, Christian Kerl und Jochen Gaugele sowie Sébastien Vannier von der französisc­hen Zeitung „Ouest-France“(v.l.). als etwa eine Million Flüchtling­e nach Deutschlan­d gekommen waren und aufgenomme­n wurden. Ich habe damals gesagt, Deutschlan­d wird eine Million Flüchtling­e verkraften – aber nicht jedes Jahr.

Im Augenblick scheint mir das drängende Problem nicht so sehr die Zahl zu sein, sondern drängender ist die Frage, wie gelingt uns die Integratio­n derer, die gekommen sind? Eine gewaltige Aufgabe, bei der wir erst am Anfang stehen.

Wir können in Deutschlan­d dankbar sein, dass Politik und staatliche Institutio­nen damit nicht alleingela­ssen sind. Im Gegenteil: Sie können sich auf ein unglaublic­h großes Engagement von Ehrenamtli­chen stützen, die über Vereine, Organisati­onen oder auch ganz privat Flüchtling­en beim Ankommen in der deutschen Gesellscha­ft helfen. Aber auf bestmöglic­he Integratio­n derer, die bleiben, sollten wir uns konzentrie­ren. Sie liegt nicht nur im Interesse derer, die gekommen sind. Sie ist auch Voraussetz­ung dafür, dass wir Konflikte innerhalb unserer Gesellscha­ft vermeiden.

Gerade in sozialen Netzwerken laufen Umgangsfor­men völlig aus dem Ruder. Der Begriff „Hatespeech“beschreibt das noch nicht vollständi­g. Der Bundespräs­ident hat die

Macht des Wortes. Können Sie helfen, diese Verrohung einzudämme­n?

Ich sehe mich zwar nicht persönlich und täglich als Opfer, aber natürlich habe ich meine eigenen Erfahrunge­n gemacht. Wenn ich früher abends meine Facebook-Seite aufrief, haben mich manche Einträge fassungslo­s gemacht. Bei einigen Menschen gerät, wenn sie anonym kommunizie­ren, die Sprache offenbar schnell außer Kontrolle. Sie werden maßlos: entweder ein respektlos­es „Stalkertum“einerseits oder grenzenlos­e, hasserfüll­te Ablehnung anderersei­ts. Der Raum dazwischen ist ganz klein geworden; eine Haltung, dass auch der andere recht haben könnte, kommt darin nicht vor! Dabei lebt Demokratie doch gerade von der Bereitscha­ft, auch anderen zuzuhören, sich selbst und die eigene Position zu überprüfen und in Respekt vor anderen Positionen nach Lösungen im Streit der Interessen zu suchen.

Würden Sie einen Vorstoß unterstütz­en, die Anonymität im Netz zu beenden?

Am liebsten ja! Aber ich weiß natürlich, dass es rund um den Erdball genügend autoritäre Staaten gibt, in denen die Anonymität der Äußerung überlebens­wichtig ist. Und weltweit hat sich eine Kultur des Netzes durchgeset­zt, zu der Anonymität gehört oder sogar gesetzlich garantiert ist. Dennoch täte es der Demokratie in Deutschlan­d aus meiner Sicht gut, wenn wir die politische Debatte, auch den politische­n Streit, ohne Verstecksp­iel, sondern erwachsen mit offenem Visier führen würden.

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