Im Kofferraum in die Freiheit
Trotz Stasiüberwachung gelang zwei Thüringern die Flucht aus der DDR – in ihrer früheren Schule in Gotha sprachen sie mit Schülern darüber
Gotha. Ende November 1971 herrschte bei der Gothaer Stasi Katerstimmung. Grund war eine Heiratsanzeige im lokalen Anzeigenteil der SED-Zeitung „Das Volk“. Nun wussten es alle: Eva Debes und Günther Heinzel hatten geheiratet.
Was die Mielke-Leute dabei so in Rage brachte, war die Tatsache, dass das Inserat in der Redaktion niemals hätte angenommen, geschweige denn veröffentlicht werden dürfen. Denn Eva und Günther waren zu dieser Zeit keine DDR-Bürger mehr. Beide lebten bereits im Westen. Innerhalb weniger Monate hatten sie dem Arbeiter- und Bauernstaat nacheinander den Rücken gekehrt – illegal und auf denkbar abenteuerlichem Weg.
Gelernt haben die Heinzels in der Arnoldischule in Gotha, damals eine Erweiterte Oberschule, heute Gymnasium. Deren Schulleiter Clemens Festtag lud den pensionierten Zahnarzt und seine Frau, die heute in Köln leben, jetzt zu einem spannenden DDR-Geschichtsprojekt für die zehnten Klassen seiner Schule nach Gotha ein. Es ist nicht die erste Verabredung dieser Art. Seit einigen Jahren schon hält man Kontakt. Unterstützt wird die Schule von Matthias Wanitschke, Projektleiter beim Landesbeauftragten für die Aufarbeitung der SED-Diktatur.
Authentischer kann Geschichtsunterricht über die DDR nicht sein. Für die Schüler der Zehnten wird es eine Begegnung mit zwei Menschen, die zur Zeit ihrer Flucht nicht viel älter waren als sie selbst. Wie tickten junge Leute damals? Was war anders in Schule und Alltag? Warum wollten sie weg aus der DDR? Und wieso hätten sie dafür sogar harte Gefängnisstrafen oder noch Schlimmeres in Kauf genommen?
Bevor man sich allerdings vor Ort mit den Zeitzeugen zu Lesung und Gespräch trifft, befragen die 15- und 16-Jährigen ihre Eltern und Großeltern zu deren DDR-Erinnerungen und arbeiten sich in der Erfurter Außenstelle der Stasiunterlagen-Behörde durch Akten zum Fall Heinzel/Debes. Den Berichten nach gelang Günther Heinzel seine eigene Flucht Ende 1969, obwohl er vier Jahre zuvor nach einem gescheiterten Fluchtversuch als 16-Jähriger fast 10 Monate Haft im Jugendhaus Ichtershausen verbüßte und die Stasi ihn auf dem Kieker hatte.
Auch die Bemühungen, Freundin Eva von Westberlin aus nachzuholen, blieben bei Mielkes Leuten nicht unbemerkt. Doch obwohl durch einen Westberliner Spitzel bekannt war, dass sich auch Eva ausschleusen lassen wollte und die Stasi ihr in Gestalt eines IM-Nachbarn bereits dicht auf den Fersen war, gelang auch ihr im September 1971 die Flucht. Konnten Menschen überhaupt so viel Glück haben? War der Überwachungsapparat der Stasi am Ende doch nicht so perfekt?
Alles können auch Heinzels den Schülern nicht erklären. Was die Stasi damals wusste – und nicht wusste, konnten sie erst nach der Wende im Operativen Vorgang (OV) „Architekt“nachlesen. Demnach tappten Mielkes Schnüffler tatsächlich an einigen Stellen im Dunkeln.
Für sie selbst habe damals nur das „Rauskommen“gezählt. Bloß weg aus einem Land, in dem man seine Meinung nicht bzw. nur dann sagen durfte, wenn sie mit der offiziellen Linie übereinstimmte. In dem es zu dieser Zeit für Kinder sogenannter Intelligenz-Eltern schwer bis unmöglich war, einen Studienplatz zu bekommen. Günther Heinzel und seine Frau Eva beim Schülergespräch in der Arnoldi-Schule in Gotha. Foto: Hanno Müller
Das seine Bürger gerade eingemauert und selbst wenig Verlockendes zu bieten hatte. Auch Eva muss nicht zur Erkenntnis überredet werden, dass es überall besser war als in Ulbrichts Mauerstaat.
Nach der Grenzschließung von 1961 sind Schleuser so ziemlich der einzige Weg in die Freiheit. Die nicht unerheblichen Mittel für eine solche Fluchthilfe stellt eine Westtante Heinzels zur Verfügung. Als Vorbestrafter darf er nicht ins sozialistische Ausland, bleibt also nur der Weg über das geteilte Berlin. Immer wieder trifft er sich heimlich mit Fluchthelfern in der Frontstadt, nie kann er sich dabei sicher sein, ob ihm die Stasi nicht längst auch die Schliche gekommen ist.
Und dann geht plötzlich alles ganz schnell, zu schnell. Als es bei einem Berliner Treffen heißt, morgen!, morgen ist es soweit, weiß er nicht, wie Eva so schnell nach Berlin nachkommen soll, ohne den Argwohn der Stasi zu wecken. Er muss sich entscheiden. Im umgebauten Tank eines Lkw gelangt Günther Heinzel vom Autobahnparkplatz in Michendorf nach Westberlin. Auf die Frage der Gothaer
Schüler, wieso er Eva damals zurückließ, versichert er, er sei fest entschlossen gewesen, sie so schnell wie möglich nachzuholen.
Aus dem „so schnell wie möglich“werden fast zwei Jahre. Selbst versierte Fluchthelfer zucken bedauernd die Schultern. Alle Fluchtwege sind dicht. Die Stasi hat jetzt im Westen überall Augen und Ohren. Wie den Fluchtwilligen, drohen auch den Helfern drastische Strafen.
Der Geflüchtete muss selbst zum Fluchthelfer werden. Seine Hoffnungen setzt er in die Alliierten. Fahrzeuge westlicher Besatzer dürfen an den Übergängen nach Ostberlin nicht kontrolliert werden. Monatelang streift er durch Lokale und Etablissements, in denen GIs und Tommys verkehren. Immer wieder holt er sich Absagen.
Offiziell ist Militärangehörigen jegliche Fluchthilfe verboten, man will keinen Streit mit den Russen. Jetzt ist es Eva, die heimlich nach Berlin kommt – und sich vertrösten lassen muss.
Es ist diese Hartnäckigkeit Heinzels, die sich damals über die Westspitzel bis zur Stasi herumspricht. Da
ist einer im Westen unterwegs, der will seine Freundin rüberholen.
Als sich das Räderwerk in Bewegung setzt, ist es schon zu spät. Heinzel hat einen GI gefunden, der die Sache für ihn durchzieht. Nach einem ausgeklügelten konspirativen System erkunden Westfreunde Fluchtweg und sicheren Einstiegspunkt in den Kofferraum, zu dem sie Eva schließlich am Tag der Flucht lotsen. Zusammen sind sie die „zwei plus vier“Helfer aus dem Titel von Heinzels Buch über die Flucht.
Bereut hätten sie den Schritt nie, versichern Heinzels den Gothaer Schülern. Sie hätten viel riskiert und viel gewonnen. Am 11. September 1971 betrat Eva Debes Westberliner Boden. Mitte November 1971 heiratete sie Günther und wurde zu Eva Heinzel. Den Coup mit der Anzeige landet damals Heinzels hochbetagter Vater. Als Eva es den Schülern erzählt, lacht sie herzlich und befreit. Es ist das Happy End einer dramatischen DDR- und Flucht-Geschichte.
▶ Reinhard Iben: Zwei plus vier. Verlag Pro Business, Seiten, Euro; Ebook , Euro