Theatralisches dominiert die „Winterreise“
Manchmal ist im Finale der Erfurter „Schubertiade“die die Seele berührende Aura lediglich zu erahnen
Weimar. Traditionspflege ist die Seele des Musiklebens. In der laufenden Konzertsaison widmet sich der Erfurter Kammermusikverein einem ganz besonderen Erbe. Aus Anlass des 220. Geburtstages von Franz Schubert ließ der Verein die Tradition der „Schubertiaden“wieder aufleben. Abgesteckt wurde der inhaltliche Rahmen von den beiden unübertroffenen Liederzyklen „Die schöne Müllerin“und „Die Winterreise“.
Beim Finale der diesjährigen „Schubertiade“im ausverkauften Festsaal des Erfurter Rathauses durfte man vor allem auf zwei Interpretationen gespannt sein. Am Nachmittag spielte die in Tokyo geborene Pianistin Miku Nishimoto-Neubert die große B-Dur-Sonate D 960 von Franz Schubert. Am Vorabend des ersten Mai sang der Tenor Simon Bode, begleitet von Joana Mallwitz, die ergreifende „Winterreise“.
Miku Nishimoto-Neubert gestaltete nach allen beherrschten Regeln der pianistischen Kunst. Aber so, wie bereits das erste, schlichte Thema nach dem ersten Ton eine Überdehnung erhielt, so eigenwillig verlief das gesamte Werk. Trotz deutlicher Phrasierungen und vieler schöner dynamischen Schattierungen, trotz eines enormen Detailreichtums konnte man als Hörer den inneren Zusammenhang, die die Seele berührende Aura lediglich erahnen.
Zweifel an der Tiefe der Empfindung hinterließ auch das Duo BodeMallwitz. Fraglos kommt der 1984 in Hamburg geborene Simon Bode in die besten Sängerjahre, fraglos ist er ein lyrischer Tenor, der an den Opernhäusern Frankfurt und Hannover als Tamino und Belmonte Erfolge feierte. Zweifelsfrei trafen mit Joana Mallwitz und Simon Bode für Schubert zwei Mozart-Spezialisten zusammen. Und die Oper war in ihrer Auffassung der „Winterreise” allgegenwärtig. Das Ergebnis war ein interessantes, zu Vergleichen anregendes Angebot, bei welchem der Klavierpart die melodische Linie konstanter wahrte als der Sänger. Dem Part des Tenors haftete viel Theatralisches an, wodurch beispielsweise Hektik das Lied „Rückblick” dominierte, wodurch mit der „Wetterfahne” kokettiert wurde, wodurch „Auf dem Flusse” die Intonation ins Wanken geriet, wodurch „Die Post” einer modernen Eilsendung glich. Die für Schuberts „Winterreise” charakteristische Innerlichkeit, jene „Anatomie der Melancholie” brachte Simon Bode am schönsten in „Der Wegweiser” sowie in den „Nebensonnen” zum anrührenden Ausdruck.
Gewiss sollte man den Werkauffassungen junger Künstler unvoreingenommen begegnen, aber man sollte Vergleiche mit den Großen ihrer Zunft nicht scheuen, beispielsweise mit Wilhelm Kempff, Alfred Brendel, Thomas Hampson, Hans Hotter und Gerald Moore.