Klitschko lässt Karriereende offen
Box-Altmeister Wladimir Klitschko verliert zwar den spektakulären WM-Kampf gegen Anthony Joshua, gewinnt aber viele Sympathien
London. Dass er hart im Nehmen ist, hatte Anthony Joshua bei seinem Sieg durch technisches K.o. in Runde elf gegen den langjährigen Dominator der Königsklasse des Berufsboxens, Wladimir Klitschko, im Ring eindrucksvoll bewiesen. Verwundern, dass er sich auch eine Stunde nach seinem größten Triumph noch im acht Grad kalten Wembley-Stadion mit freiem Oberkörper von Familie, Freunden und Fans bejubeln ließ, dürfte es entsprechend wenig. Und auch die eine weitere Stunde später gehaltene Pressekonferenz war längst nicht die letzte Etappe seines Feiermarathons.
„Ich werde diesen Erfolg mit meiner Familie teilen, die ich ein Vierteljahr kaum gesehen habe“, sagte der 27-Jährige. Trotz seines Status’ als kommender Superstar, gibt er sich bodenständig: „Boxen ist das, was mir Spaß macht, aber ich liebe mein Leben generell, deshalb wird sich für mich nicht viel ändern durch diesen Sieg. Ich werde ein Mann des Volkes bleiben.“
Und doch wird der Sieg definitiv mehr sein als nur der 19. vorzeitige Erfolg im 19. Profikampf. Dieses von 90.000 Fans im ausverkauften Wembley-Stadion live begleitete Duell mit der Rekordbörse von mindestens 15 Millionen Euro pro Mann dürfte für den Sohn nigerianischer Einwanderer ein Meilenstein seiner Karriere gewesen sein.
„Heute fühlt es sich so an, als wäre Anthony erst jetzt ein richtiger Weltmeister geworden“, kleidete Joshuas stolzer Promoter Eddie Hearn in Worte, was viele dachten. Mit Klitschko hatte der Olympiasieger von 2012 endlich einen Kontrahenten vor sich, der auf Augenhöhe mitzuhalten imstande war, und das nicht nur, weil beide mit 1,98 Meter exakt gleich groß sind.
Nein, Klitschko, der seine drei WM-Titel im November 2015 nach neuneinhalb Jahren Regentschaft an Joshuas Landsmann Tyson Fury verloren und seitdem nicht mehr geboxt hatte, schaffte es, den Altersunterschied von 14 Jahren zum Randaspekt zu degradieren. Er zeigte in seinem 29. WM-Kampf seine wohl spektakulärste Leistung und trug damit seinen Teil dazu bei, dass der als Megakampf angekündigte Blockbuster, mit dem in England der Pay-perview-Rekord gebrochen wurde, von den Vorschusslorbeeren nicht überwuchert wurde. Bis zum Ende war es ein Kampf voller Spannung und wechselnder Dominanz. Während Klitschko in den ersten vier Runden kaum Gelegenheit bekam, seine sonst so starke linke Führhand, auf der er als Weltmeister ganze Kämpfe aufgebaut hatte, zu bedienen, glaubten viele in Runde fünf gar an ein schnelles Ende. Nach einer klassischen Links-Rechts-Kombinationssalve brachte der IBF-Weltmeister, der durch den Triumph auch den vakanten Superchampiontitel der WBA erkämpfte, Klitschko erstmals zu Boden .
Klitschko jedoch kam zurück, traf seinerseits Joshua schwer, so dass in der Pause der Brite härter gezeichnet wirkte als der Ukrainer. Und spätestens als der Wahl-Hamburger in Runde sechs mit einer krachenden Rechten Joshua auf die Bretter schickte, schien sich das Geschehen gedreht zu haben. „Ich war überrascht, dass er wieder aufgestanden ist. Das hätten viele andere nicht geschafft“, gab Klitschko nach dem Kampf unumwunden zu. Joshua jedoch schaffte es – und beantwortete damit die Frage nach seinen Nehmerfähigkeiten.
Dennoch übernahm Klitschko von Runde sieben an deutlich das Kommando, nun traf auch endlich der Jab, dafür setzte er die Rechte weniger effektiv ein – was sich rächen sollte. Zu Beginn der elften Runde schüttelte ein klassischer Aufwärtshaken Joshuas den anrennenden Herausforderer Anthony Joshua (rechts) traf Wladimir Klitschko mehrmals hart. Foto: Richard Heathcote
dermaßen durch, dass dieser sich davon nicht wieder vollständig erholen konnte. Zweimal musste Klitschko in der Folge angezählt werden, rappelte sich jedoch beide Male wieder auf. Erst nach einem weiteren
Schlaghagel an Klitschkos Kopf entschied sich Ringrichter David Fields (USA) 37 Sekunden vor dem Ende der vorletzten Runde zum Kampfabbruch. Eine umstrittene, aber vertretbare Entscheidung.
Zum Zeitpunkt des Abbruchs standen 355 Schläge mit 107 Treffern für Joshua zu Buche, 257 Schläge mit 94 Treffern für Klitschko. Zudem hatten zwei Punktrichter Joshua zwei respektive drei Runden vorn und der dritte Klitschko um zwei Runden, so dass ein Mehrheitsentscheid für Joshua wahrscheinlich gewesen wäre.
Selbstkritisch wirft es sich Klitschko ein wenig vor, in Runde sechs nicht mit noch mehr Entschlossenheit auf den Knockout gedrängt zu haben: „Da hätte ich vielleicht etwas mehr machen müssen“. Auch sei man über die konditionellen Fähigkeiten des Gegners in den späten Runden überrascht gewesen, erklärte sein Bruder Vitali (45). „Wir hatten geglaubt, dass er wegen seiner großen Muskeln abbauen würde, je länger der Kampf dauert“, sagte er.
Joshua, der bis dato nie länger als sieben Runden im Ring gestanden hatte, bewies indes, einen Kampfplan über die Distanz durchziehen zu können. „Es war unsere Taktik, zwischendurch auch mal zu verschnaufen, um am Ende noch einmal alles mobilisieren zu können“, sagte Joshuas Coach Robert McCracken.
Entsprechend anerkennend kommentierte auch Klitschko den Kampf. „Ich wünschte, ich hätte gewonnen. Aber Anthony hat ein großes Herz gezeigt, ist von dem Niederschlag zurückgekommen und hat verdient gewonnen“, sagte Wladimir. Noch 2014 holt er sich den Briten ins Trainingslager, nun sagt er ihm eine große Zukunft voraus.
Und während die von Klitschko noch völlig offen ist, könnte Joshua als neuer K.o.-König eine lange Regentschaft antreten. Lukrative Kämpfe könnte er etwa gegen britische Rivalen wie Tyson Fury oder Tony Bellew, vielleicht auch eine Titelvereinigung mit WBC-Champion Deontay Wilder (USA) oder WBO-Weltmeister Joseph Parker (Neuseeland) anpeilen.
Auf einen möglichen Rückkampf lässt sich nach der Bilanz von Klitschko nur spekulieren: „Ich fühle mich nicht als Verlierer. Ich habe heute weder mein Gesicht noch meinen Ruf verloren. Ich habe der Herausforderung das Gesicht und nicht den Rücken gezeigt. Für meine Karriere war das erfrischend“.
Joshua steckt Niederschlag weg